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nicht mehr germanisieren lassen, begannen vielmehr nationale Prätensionen geltend zu machen. Erst einmal in die Nähe wahrhafter Bildung gelangt, zog es den intelligenten Letten mit energischem Zauber immer tiefer in dieselbe hinein. Mit einer Energie, welche man diesem weichen, versklavten Volke gar nicht zutrauen konnte, gelang es immer mehr begabten und fleißigen Jünglingen aus dem Bauernstande, sich Zutritt zu den höheren und höchsten Bildungsanstalten zu verschaffen, oft unter Entbehrungen und Kämpfen allerschwerster Art. Heute giebt es bereits eine lettische Gesellschaft, bestehend aus Ärzten, Advokaten, Beamten, Journalisten, eine lettische Litteratur, Bühnenkunst und Presse. In Riga, der baltischen Metropole, erscheinen allein vier größere lettische Zeitungen und eine illustrierte Monatsschrift. Der große „Lettische Verein“ daselbst unterhält eine ständige lettische Bühne. Dramatiker und Novellisten lettischer Zunge wie Rudolf Blaumann, Aspasia (Else Rosenberg), Jakob Apsit, Epiker und Lyriker, wie Pumpurs, Lerch-Puschkaitis, Auseklis, Jurris Allunna, Jakob Essenberg, Wensku Edwarts, Paweßaru Jahnis, Waidelaitis, könnten einer jeden Nationallitteratur zur Zierde gereichen. Am originellsten und üppigsten aber hat sich im Laufe der Jahrhunderte die Volkspoesie – Volkslied und Volksmärchen – entwickelt.

Rechnet man die Einwohnerzahl Livlands zu rund 1,200,000, die Hälfte derselben, d.h. diejenigen, welche bereits den lettischen Teil der Provinz bewohnen, demnach zu 600,000, so entfallen davon auf die Letten allein gegen 490,345 Köpfe, während es in Kurland unter den circa 700,000 Bewohnern 479,978 Letten giebt. Die verschwindende Minderzahl der übrigen Einwohner besteht aus Deutschen, Russen, Juden,

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Victor von Andrejanoff: Lettische Volkslieder und Mythen. Otto Hendel, Halle a.d.S. 1896, Seite 8. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AndrejanoffLettischeVolkslieder.pdf/6&oldid=- (Version vom 14.8.2016)