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Im Mittelalter ist ja wohl mit den Wucherern oft kurzer Prozeß gemacht worden, die Bauern oder ausgesogenen Bürger haben sich zusammengetan, und die Wucherer erschlagen. Heute sind wir in ein ganz anderes Entwicklungsstadium des Zinsproblems getreten. Solche Pogrome werden aufs tiefste mißbilligt. Es handelt sich auch gar nicht mehr um einzelne lokal begrenzte Krankheitserscheinungen, die durch das Ausschneiden des Eiterherdes bekämpft werden könnten, es handelt sich um eine schwere Erkrankung der ganzen Menschheit. Es mag ganz besonders betont sein, daß gerade unsere heutige Kultur gerade die Internationalität der wirtschaftlichen Beziehungen das Zinsprinzip so mörderisch machen. Der gegebene historische Rückblick soll auch gar keine Analogie sein für die heutigen Verhältnisse. Wenn die Babylonier die Assyrer, die Römer die Karthager, die Germanen die Römer überwanden, so gab es keine Fortdauer der Zinsknechtschaft; es gab keine internationalen Weltmächte. Die Kriege wurden auch nicht durch Borgen finanziert, sondern mit den während des Friedens angesammelten Schätzen. Eine sehr nette Zusammenstellung hierüber gibt David Hume in seiner Abhandlung über den Staatskredit. Erst die neue Zeit mit ihrer Kontinuität des Besitzes und ihrem internationalen Recht läßt die Leihkapitalien ins Unangemessene steigen. Der Pfennig, der zur Zeit von Christi Geburt auf Zinsen gelegt wurde, existiert nicht mehr, weil inzwischen mehrmals alle Besitzrechte der Gewalt weichen mußten; dagegen existiert der Pfennig, den der alte Rotschild auf Zinsen gelegt hat und wird, wenn es ein internationales Recht gibt, in alle Ewigkeit existieren. Es ist außerdem zu bedenken, daß weite Strecken der Erde erst in der neuen Zeit von der Naturalwirtschaft zur Geldwirtschaft übergegangen sind. Ganz besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang, daß erst in der Mitte des vorigen Jahrhunderts alle Beschränkungen im Zinsennehmen bezw. alle Zinsverbote abgeschafft wurden. So in England im Jahre 1854, in Dänemark 1856, in Belgien 1865, in Oesterreich 1868.

Also nicht viel älter wie ein halbes Jahrhundert ist der mit dem Geldbesitz heute als unzertrennlich betrachtete Zinsbegriff. Aber gerade dieser Zinsbegriff hat erst das Geld zu der dämonischen Macht von so allgemeiner Gewalt werden lassen, wie wir es kennen gelernt haben. Erst seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts datiert auch die beginnende und dann immer stärker werdende Verschuldung der Staaten gegenüber den Kapitalisten. Erst seit dieser Zeit sehen wir den Staat vom Sachwalter der Volksgemeinschaft zum Sachwalter der

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Gottfried Feder: An Alle, Alle! 1. Heft. Huber, München 1919, Seite 34. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:An_Alle,_Alle!_Heft_1,_1919.djvu/36&oldid=- (Version vom 29.10.2017)