Natur bestehet. Wenn man das Leben der meisten Menschen ansiehet: so scheinet diese Creatur geschaffen zu seyn, um wie eine Pflanze Saft in sich zu ziehen und zu wachsen, seyn Geschlecht fortzusetzen, endlich alt zu werden, und zu sterben. Er erreichet unter allen Geschöpfen am wenigsten den Zweck seines Daseyns, weil er seine vorzügliche Fähigkeiten zu solchen Absichten verbrauchet, die die übrigen Creaturen mit weit minderen, und doch weit sicherer und anständiger, erreichen. Er würde auch das Verachtungswürdigste unter allen, zum wenigsten in den Augen der wahren Weisheit, seyn, wenn die Hoffnung des Künftigen ihn nicht erhübe, und denen, in ihm verschlossenen Kräften, nicht die Periode einer völligen Auswickelung bevorstünde.
Wenn man die Ursache der Hindernisse untersuchet, welche die menschliche Natur in einer so tiefen Erniedrigung erhalten; so findet sie sich in der Grobheit der Materie, darinn sein geistiger Theil versenket ist, in der Unbiegsamkeit der Fasern, und der Trägheit und Unbeweglichkeit der Säfte, welche dessen Regungen gehorchen sollen. Die Nerven und Flüßigkeiten seines Gehirnes liefern ihm nur grobe und undeutliche Begriffe, und weil er der Reizung der sinnlichen Empfindungen, in dem inwendigen seines Denkungsvermögens, nicht genugsam kräftige Vorstellungen zum Gleichgewichte entgegen stellen kan: so wird er von seinen Leidenschaften hingerissen, von dem Getümmel der Elemente, die seine Maschine unterhalten, übertäubet und gestöret. Die Bemühungen der Vernunft, sich dagegen zu erheben,
Immanuel Kant: Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels. Johann Friederich Petersen, Königsberg und Leipzig 1755, Seite 182. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Allgemeine_Naturgeschichte_und_Theorie_des_Himmels.djvu/246&oldid=- (Version vom 31.7.2018)