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in Figuren über dem zweiten und dritten, in hohe Vasen mit schlanken Postamenten über dem obersten Geschoß ist jede Herbe und Strenge im Aufsteigen vermieden. Gerade Linien treten am Turme fast gar nicht auf. Die Horizontalen, die sich alle als Kurven dem elliptischen Grundriß anschließen, sind durch unterbrechende Verkröpfungen ins Vertikalsystem eingebunden. Die Beziehung zwischen Last und Stütze, der eigentliche Stockwerksbau, tritt ganz zurück in der Gesamtwirkung zugunsten einer Gliederung, die an stalagmitenartiges Aufstreben erinnert. Neben sicherer Beherrschung der Gesetze künstlerischer Wirkung und eingehendem Modellstudium war eine ungeheure Denkarbeit nötig zur logisch konsequenten Durchführung des komplizierten und doch klar disponierten Aufbausystems, zur Verwirklichung des in reicher Künstlerphantasie konzipierten Werkes, beim Turm wie beim gesamten Bau. Aber beim Anblick der mächtigen und prächtigen Barockkirche mit ihrem leichten, eleganten und graziösen Turm wird nichts von diesem scharfen Denken fühlbar, ein untrügliches Zeichen hohen künst­lerischen Wertes.

Vorbilder für seinen Turm fand Chiaveri nur in sehr bescheidener Form vor. Die Verknüpfung eines Langhauses mit dem Kuppelbau hatte zur Entwicklung turmartiger Aufsätze auf den Ecken der Stirnfassade geführt. Die Baugeschichte von St. Peter in Rom ist hierfür lehrreich. Michelangelo setzte nur kleine Flachkuppeln auf die Ecken des Zentralbaues. Maderna stellte seitliche Türme an die Front seines Langhauses. Obwohl im Grundriß selbständig, verwuchsen sie doch derart mit der ganzen Fassade, daß sie nur als niedrige Aufsätze derselben erscheinen mußten. Erst in Berninis Entwurf (1638) gewannen sie durch größere Höhe (55 m über der Fassade, 100 m insgesamt) und luftigere Ausbildung turmartigen Charakter. Mannigfach ist das Motiv der Kuppel mit Fassadentürmen ab­gewandelt worden. Am wirkungsvollsten bei St. Agnese in Rom (1690). Hier gewannen die „geradezu genial entworfenen Türme“ (Gurlitt) die größte Selbständigkeit durch Vorziehung vor die Fassade bei Anordnung der Kuppel über dem Haupteingang. Chiaveri hat diesen Bau, den C. Rainaldi entwarf, eingehend studiert. Die beiden unteren Geschosse sind rechteckig. Nur der Kern tritt zwischen den flankierenden Pilastern bogenförmig vor. Das dritte Geschoß ist kreisrund. Seine Säulen stehen noch Schaft auf Schaft über den Pilastern, aber sie sind anders orientiert. Der Gebälkkropf der beiden Ecksäulen ist gemeinsam und paßt sich der Rundung an. Die Wirkung beruht auf der Betonung der Diagonalen. Ein neues Motiv war damit gefunden. Vielleicht stammt es erst von Baratta, der die Türme vollendete. Chiaveri bildete in seiner Art das Motiv selbständig fort und überholte bedeutend sein Vorbild. Einen bemerkenswerten älteren Säulenturm besitzt die Kirche St. Mary le Strand[1] in London (1717) von dem Schotten James Gibbs, der in Turin ausgebildet war. Die quadratische Spitze des Turmes ist aus dem rechtwinkeligen Grundriß der vier Säulengeschosse entwickelt. Jede Seite wird von freistehenden Einzelsäulen flankiert. Diese stehen in den geometrischen Fassaden nicht mehr Schaft auf Schaft, wohl aber in radialer Richtung gesehen, denn sie rücken gleichzeitig nach dem Zentrum und nach der Fassadenmitte zusammen, also auf Ellipsenradien. Das eigenartige Bildungs­prinzip würde noch deutlicher sein, wenn die beiden oberen Geschosse nicht Pilaster beziehentlich Doppelpilaster an der Stirnseite zeigten. Da Gibbs seine Arbeiten veröffentlichte, könnte Chiaveri den Turm gekannt haben.

Ein Einfluß des Hofkirchenturms ist außerhalb Dresdens wohl kaum nachweisbar. In Dresden stellte der Bau der Kreuzkirche ein ähnliches Problem. Schon Schmidt, der sicher mit Absicht jede Anlehnung vermied, hat starke Anregung empfangen, die er aber selbständig zu verarbeiten wußte.

Lockes Kreuzkirchenprojekt (1762).

Der Generalaccisbaudirektor Samuel Locke hatte im Juli 1761 gemeinsam mit Schmidt die Kirchenruine begutachtet. In einer Eingabe von 1785[2] schreibt Locke, daß er von Bormann mit der Fertigung von Kirchenrissen beauftragt worden sei, daß er „mit Beihülfe der nötigen Personen“ die

Ruinen der Kirche aufgemessen und am 16. Oktober 1762 10 Pläne „in einem Karton mit blauseidenen


  1. Gurlitt, Geschichte des Barock in England, S. 373 Abb. 118.
  2. Ratsarchiv B. III. 43 und Hauptstaatsarchiv loc. 2258, Kreuzkirche betreffend, v. Juni 1886.
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Alfred Barth: Zur Baugeschichte der Dresdner Kreuzkirche. C. C. Meinhold & Söhne, Dresden 1907, Seite 115. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Alfred_Barth_Zur_Baugeschichte_der_Dresdner_Kreuzkirche.pdf/123&oldid=- (Version vom 23.4.2024)