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Mozart über Schubert und Brahms zu Reger und Schönberg. Und da ist vielleicht nicht uninteressant zu erwähnen, daß sowohl Reger als Schönberg, wenn sie auf den unsymmetrischen Bau ihrer melodischen Linienführung zu sprechen kamen, darauf hinwiesen, dass diese etwa der Prosa des gesprochenen Wortes gleichzusetzen wäre, während die streng geradtaktige Melodik mehr der gebundenen Rede (der Versform) entspräche. Aber ebensowenig wie die Prosa, ist die unsymmetrische Melodik weniger logisch gegliedert, als die symmetrische. Sie besitzt ebenso wie diese ihre Halb- und Ganzschlüsse, Ruhe- und Höhepunkte, Zäsuren und Übergänge, einleitende und abschließende Momente, die man infolge ihrer zielstrebigen Tendenz ohne weiters mit Modulationen und Kadenzen vergleichen kann. All dies zu erkennen ist gleichbedeutend damit, sie als Melodien im wahrsten Sinne des Wortes zu empfinden...

Opp.: ... und sie vielleicht sogar für schön halten.

Berg: Ganz richtig! Aber gehen wir weiter: Mit dieser Freiheit der Melodiegestaltung geht natürlich auch die der richtigen Gliederung einher. Damit, daß die Rhythmik solcher Musik eine Auflockerung erfahren hat, sagen wir: durch Verkürzung, Verlängerung und Ineinandergreifen der Werte sowie Verschiebung der Schwerpunkte, wie dies wieder ganz besonders bei Brahms zu konstatieren ist, sind noch nicht die Gesetze der Rhythmik aufgehoben, und es ist ebenso unsinnig, ein solches Verfahren, das doch nur eine Verfeinerung der Kunstmittel darstellt, „arhythmisch“ zu nennen, wie die Bezeichnung „amelodisch“. Diese Rhythmik wird ja noch besonders bedingt durch die Vielstimmigkeit der neuen Musik, und hier wäre es nicht unangebracht zu konstatieren, daß wir uns scheinbar in einer Zeit befinden, die der Bach'schen sehr ähnlich ist. So wie sich nämlich damals in der Erscheinung Bachs selbst die Umwandlung der reinen Polyphonie und des imitatorischen Stils – und des Begriffs der Kirchentonarten – zu der auf das Dur- und Mollgeschlecht gestützten harmonischen Schreibweise vollzogen hat, so gelangen wir jetzt aus der harmonischen Zeit, die eigentlich die ganze Wiener Klassik und deren Jahrhundert beherrscht hat, langsam aber unaufhaltsam in

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Alban Berg: Was ist atonal?. 23 – Eine Wiener Musikzeitschrift, Wien 1936, Seite 8. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Alban_Berg_Was_ist_atonal_08.jpg&oldid=- (Version vom 6.9.2019)