daß zumeist erst dann die Feststellung eines Defizits möglich wird und in die Augen fällt, wenn sich die Minderwertigkeit auch irgendwie im Ausfall einer Funktion, in einem Mangel der Leistung nachweisen läßt. Denn in diesem Punkte erst, sei es bei aufrechterhaltener Gesundheit oder im Stadium der Erkrankung, wird sie fühlbar und zwingt zu einer Überlegung des Sachverhalts. Was wir der Natur der Sache nach an Ausfallserscheinungen erwarten können, wird sich darstellen als motorische Insuffizienz, als mangelhafte Produktion zugehöriger Drüsensekrete und vor allem als dürftigere Ausbildung oder Fehlen von Reflexaktionen aller Art, aber auch als deren Gegenteil, als motorische Überleistung, als Hypersekretion und als Steigerung der Reflexe.
Als Paradefall motorischer Schwäche wäre etwa Virchows Hypoplasie des Gefäßsystems anzusehen. Mangelhafter Produktion begegnen wir beispielsweise bei gewissen Schilddrüsenerkrankungen oder bei der Chlorose (Kahane). Wir wollen unser Augenmerk an dieser Stelle besonders dem Mangel und den Übertreibungen der Reflexe, insbesondere der Schleimhautreflexe, zuwenden, weil für diese einigermaßen Material vorliegt und mir ihr Zusammentreffen mit anderen Minderwertigkeitszeichen verbürgt erscheint. So kommt es, daß sich der Befund dieser Reflexanomalien vorzüglich zur Aufdeckung einer Organminderwertigkeit eignet.
Die folgende Untersuchung erstreckt sich durchaus nicht auf die ganze große Zahl der bekannten Haut- und Schleimhautreflexe. Ich mußte mich begnügen, gerade nur eine Minderzahl einer systematischen Durchmusterung zu unterziehen und will vor allem nur den Gaumen- und den Konjunktivalreflex aus ihnen hervorheben. Vorher aber müssen wir eine Art von Reflexen streifen, deren Vorhandensein sich wohl der unmittelbaren Erkenntnis entzieht, aber doch kaum geleugnet werden kann. Es unterliegt nämlich keinem Zweifel, daß im Innern der Organe, insbesondere von der Schleimhaut röhrenförmiger Gebilde aus, vielleicht an jedem Punkte durch irgend welche Reizvorgänge Reflexaktionen ausgelöst werden können, die für die Fortbewegung von Sekreten und Exkreten von größter Wichtigkeit sind. Wenn ich aus der Analogie mit den später anzuführenden Erscheinungen Schlüsse ziehen darf, so scheint es mir sicher, daß gewisse Erkrankungen, z. B. Cholelithiasis, Nephrolithiasis, Zylindrurie, Curschmanns Spiralen, mit einer verminderten Reflexfähigkeit im zugehörigen Organteil zusammenhängen, ohne etwa durch sie ausschließlich bedingt zu sein.
Der Mangel des Gaumen- und Konjunktivalreflexes sind allbekannte Vorkommnisse, die aber bisher in der Medizin eine geringe Rolle
Alfred Adler: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Urban & Schwarzenberg, Berlin und Wien 1907, Seite 44. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerStudie.djvu/56&oldid=- (Version vom 31.7.2018)