Minderwertigkeit finden. die den Boden für irgend eine Erkrankung parasitärer oder nichtparasitärer Natur abgibt, ebenso haben wir damit zu rechnen, daß wir im späteren Leben unter dem Einfluß der Lebensweise die Minderwertigkeit nicht immer unverhüllt oder durch die Krankheit denunziert finden. Es ist vielleicht ebenso oft der Fall, daß wir an Stelle der erwarteten Minderwertigkeit nichts abnormales oder geradezu eine Überwertigkeit, eine hervorragende Eigenschaft vorfinden.
II. Anamnestische Hinweise.
Wir haben im vorhergehenden des Öfteren der Schwierigkeit gedacht, die sich zuweilen der Klassifizierung eines Organes als minderwertig in den Weg stellt. Der Begriff der Vollwertigkeit deckt sich durchaus nicht mit dem uns geläufigeren der Gesundheit. Aus folgenden Gründen: Es kann einmal durch Inanspruchnahme von Wachstumsreservekräften am Orte der Minderwertigkeit selbst oder entfernter davon, in einem zweiten Organ oder in der Nervenbahn eine Kompensation zustande gekommen sein, die das Defizit nicht aufkommen läßt, es auch für den ärztlichen Untersucher deckt. Oder die Minderwertigkeit äußert sich bei einem Gliede des Stammbaumes an einer Stelle, die einem gesundheitlichen Funktionieren des Organes wenig oder gar nicht hinderlich ist. Bei einem anderen Glied kann die Minderwertigkeit als Gesundheitsstörung in Erscheinung treten. Oder die Gunst der äußeren Verhältnisse, öffentliche und private Hygiene, gestatten dem mit einer Minderwertigkeit behafteten Individuum den gesundheitlichen Gefahren zu entgehen, die sich sofort einstellen, wenn die soziale Lage, Arbeitszeit, Wohnung, Nahrung eine schlechtere wird. Selbstverständlich ist hier von geringeren Graden der Minderwertigkeit die Rede. Die höheren Grade bedingen entweder Lebensunfähigkeit oder decken sich wohl faktisch immer mit dem als „erkrankt“ zu benennenden Organ.
Ob es Kriterien gibt, unter „gesunden“ Organen die minderwertigen herauszufinden? Wir haben bereits gezeigt, wie uns die Hereditätslehre als Leitfaden dazu dienen kann. Nach unserer Auffassung kann ein Organ sehr wohl als gesund, seiner Heredität nach aber als minderwertig befunden werden. In solchen Fällen nun ist es unbedingt nötig, die Jugendgeschichte, besser vielleicht die Kindheitsgeschichte des Organes heranzuziehen, weil es zuweilen gelingt, die Minderwertigkeit festzustellen, die sich in dem Momente der Erkenntnis entzieht, wo die Kompensation einsetzt. Sobald sich nun die Minderwertigkeit eines Organes vor der Kompensation im frühen Kindesalter geltend macht, erscheint
Alfred Adler: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Urban & Schwarzenberg, Berlin und Wien 1907, Seite 26. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerStudie.djvu/38&oldid=- (Version vom 31.7.2018)