Minderwertigkeit fallen zu lassen und den Begriff einer „relativen“ Minderwertigkeit einzuführen, die sich, sei es zeitweilig oder nur gewissen Krankheitsursachen gegenüber geltend macht. Bezüglich der Tuberkulose freilich scheinen die Beweise einer primären Minderwertigkeit der Lunge oder anderer befallener Organe reichlicher vorhanden zu sein. Schon das hereditäre Auftreten erleichtert diese Annahme. Desgleichen die oft typische Lokalisation in Lunge, Niere, Gelenken und Gehirn. Tatsächlich liegen Hinweise vor auf Befunde, die gewisse Wachstumshemmungen anschuldigen, wie von Fränkl, Schick und Sorgo, Befunde, die wir ohne weiteres mit den von uns später hervorgehobenen Degenerationszeichen in eine Reihe stellen können.
Bezüglich des Diabetes, der Epilepsie, der Neugebilde, des chronischen Alkoholismus, der Fettsucht, des Kretinismus und einigen anderen Erkrankungen behalte ich mir vor, nach Durchsicht eines größeren Materiales deren Stellung zur Lehre von der Organminderwertigkeit zu präzisieren. Eine kleine Beobachtungsreihe hat mir nahegelegt, auch diese Affektionen als auf der Grundlage der Organminderwertigkeit aufgebaut zu betrachten.
Die Rolle des Zufalls bei Erkrankungen minderwertiger Organe ist sicherlich nicht so groß, als gemeiniglich angenommen wird. Wenigstens begegnet man Fällen, die so sonderbar anmuten, daß eine größere Reihe von ihnen imstande ist, einem die Ansicht aufzuzwingen, ihre Determination sei anders und strikter gegeben als durch den Zufall. Einen dieser Fälle will ich im folgenden vorlegen. Ladislaus F., 8 Jahre alt, erlitt im August des Jahres 1905 eine Verletzung durch eine Schreibfeder im äußeren oberen Quadranten des linken Augapfels, die durch die Conjunctiva bulbi bis in die Sklera reichte. Patient war einem mit der Feder herumfuchtelnden Kollegen zu nahe gekommen, ohne daß einem der beiden Knaben ein Verschulden aus Böswilligkeit oder besonderer Unachtsamkeit nachgewiesen werden konnte. Die Wunde heilte unter geringer Reaktion. Im Oktober des Jahres 1905 stellte sich der Knabe wieder vor mit einem in der Kornea des linken Auges eingekeilten Kohlensplitter, der ihm bei einem Windstoß ins Auge geflogen war. Nach Extraktion des Fremdkörpers trat in kurzer Zeit Heilung ein. Im Januar des Jahres 1906 erlitt Patient abermals einen Stich ins linke Auge, der ihm ebenso wie beim ersten Male von einem Schulkollegen mit einer gebrauchten Schreibfeder zugefügt wurde, etwa 1 cm unterhalb und einwärts von der ersten Stichverletzung. Auch diese Verletzung heilte wie die erste in kurzer Zeit mit Hinterlassung einer tintig tingierten Narbe. Man könnte meinen,
Alfred Adler: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Urban & Schwarzenberg, Berlin und Wien 1907, Seite 7. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerStudie.djvu/19&oldid=- (Version vom 31.7.2018)