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Sphinkterverschluss hinüberleitet. In der Tat litt Patientin in der Kindheit an Darmkatarrhen und gelegentlicher Incontinentia alvi, später an Obstipation und einer Fistula vaginalis ani. Dass der Verschluss des Anus unter der Herrschaft eines leitenden Gedankens über Verschluss der Höhlungen stand, geht auch aus der Tatsache hervor, dass Patientin nach ihrer Hochzeit längere Zeit an Vaginismus litt. Die Obstipation der nunmehr alternden Frau drückt anal die gleiche Willensrichtung aus wie ihr ehemaliger Vaginismus: ich will keine Frau, ich will ein Mann sein!

Ich muss aus praktischen und theoretischen Gründen hier stark aus dem Rahmen einer Darstellung des Charakters herausgreifen, wie man ja überhaupt bei der Erörterung psychologischer Fragen das Ganze der Psyche heranzuziehen gezwungen ist. Ausserdem bietet dieser bis ins feinste Detail analysierte Fall so klare Einsichten, wie sie in anderen Fällen oft verhindert werden, weil nicht selten die Abhängigkeit vom Arzt oder von äusseren Verhältnissen Heilung oder Abbruch der Kur eintreten lässt, bevor das Schema, nach welchem der Patient seine Neurose gestaltet hat, völlig enthüllt ist. Und so will ich denn versuchen, bei diesem Fall das Schema, ein weit verzweigtes Sicherungsnetz gegen die Rolle der Frau, darzustellen, indem ich alle ihre Symptome diesem analytisch gewonnenen Schema einordne und die Wächter gegenüber der Aussenwelt, die Charakterzüge in synthetischem Zusammenhange damit nachweise.

An dieses Schema (Seite 85) legte Patientin alle ihre Erlebnisse an, und wenn sie irgendwie passten, wozu bei symbolischer und mit tendenziöser Aufmerksamkeit überladener Apperzeption im Leben jedes Menschen genügend Anlass vorhanden ist, reagierte sie mit den entsprechenden Krankheitserscheinungen. Die sichernden Charakterzüge waren wie Vorposten weit vorgeschoben, standen stets bereit abzuwehren, klärten die Situationen im Sinne der Leitgedanken auf und holten gegebenenfalls die Unterstützung aus der Summe der passenden Symptome. Ihre selbständigen Äusserungen waren stark gehemmt durch das zarte, verständnisvolle Betragen des Gatten und durch wohlwollende Leitgedanken der Patientin. So kam es, dass das Grundschema: ich bin nur ein Weib! — seine Wirkung aus tendenziös gebliebenen Eindrücken der weiblichen Rolle schöpfte, wobei der unbewusste Mechanismus der männlichen Leitgedanken das sichernde Memento abgab. Die gesunde Frau unterscheidet sich durch bewussteres Verhalten zur weiblichen Rolle, durch zweckmässige Einfügung und durch korrigierende Annäherung des Schemas an die Realität. Die Psychose brächte eine Verstärkung des fiktiven Schemas zu Sicherungszwecken und eine unkorrigierbare Haltung innerhalb des Schemas zum Vorschein; eine solche Patientin würde sich etwa betragen, als ob sie wirklich gravid wäre. In allen 3 Fällen wäre die Fiktion der Gravidität und des weiteren Kreises ihrer Erscheinungen ein Symbol der minderwertigen weiblichen Rolle, ein darstellender Ausdruck für die Empfindung der Zurückgesetztheit, aber zugleich vom männlichen Protest ergriffen, ein Kunstgriff zur Vermeidung und Verhütung anderer Zurücksetzungen, wie oben gezeigt wurde[1].


  1. Der Formenwandel der männlichen Fiktion kann sich dahin vollziehen, dass unter ihrer Leitung die Graviditat, die Mutterschaft angestrebt wird, recht oft in solchen Fällen, wo Hindernisse schwerwiegender Natur vorliegen. Der Schrei nach dem Kind ist dann in der Regel gegen den Mann gerichtet. Die Phantomgravidität stellt oft ein derartiges Arrangement vor.
Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 84. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/92&oldid=- (Version vom 31.7.2018)