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auf welche die eigene Aufmerksamkeit und die der Umgebung vorwiegend gerichtet ist. So kommt es, dass dann der männliche Protest sich einer Organsprache bedient, um sich zum Ausdruck zu bringen. Ein schönes Beispiel, das in neurotischen Phantasien häufig wiederkehrt, ist die Jugendphantasie Leonardo da Vincis: Ein Geier stösst ihm den Schwanz wiederholt in den Mund. Diese Phantasie bringt die psychische Konstellation des Künstlers auf die knappste Abstraktion. Mundphantasien lassen sich regelmässig auf Minderwertigkeitserscheinungen des kindlichen Ernährungstraktes zurückführen. Eine Frucht dieser gerichteten Aufmerksamkeit sind wohl die Ansätze Leonardos zu einer Ernährungswissenschaft gewesen. Der Schwanz des Geiers ist Phallussymbolik. Die Summierung dieser beiden Linien ergibt den charakteristischen Grundgedanken: ich werde das Schicksal einer Frau erleben. Aber schon die straffe Fassung zu einer symbolischen Leitlinie macht uns aufmerksam, dass diese und ähnliche Gedankengänge keinen psychischen Abschluss bedeuten, sondern nach dem Drange unserer männlichen Kultur zu einem verstärkten Antrieb in der entgegengesetzten Richtung werden, zu einer Überkompensation nach der männlichen Seite führen müssen, wo sie die männliche Leitlinie um so schärfer herausarbeiten: „deshalb muss ich so handeln, als ob ich ein voller Mann wäre“. Dass diese beiden Leitlinien sich gegeneinander widerspruchsvoll verhalten, abgesehen von der Tatsache, dass jede einzelne, wie natürlich, mit der Realität in Widerspruch gerät, soferne sie „wörtlich“ genommen wird und nicht bloss als praktisch nützlich und korrigierbar, habe ich bereits in der Arbeit über „psychischen Hermaphroditismus im Leben und in der Neurose“ (Fortschritte in der Medizin, Leipzig 1910) hervorgehoben. Dieser Widerspruch spiegelt sich im Zweifel, in der Unentschlossenheit und in der Furcht vor der Entscheidung, deren Analyse ungefähr den einfachen Tatbestand widergibt, dass in früher Kindheit eine Unsicherheit bezüglich der zukünftigen Geschlechtsrolle bestand, in deren psychischem Überbau alle späteren Wahrnehmungen, Empfindungen und Regungen in gewissem Sinne als zweifelhaft gruppiert werden: ich weiss nicht, bin ich ein Mann oder eine Frau (S. Disposition zur Neurose, Jahrbuch Bleuler-Freud 1909).

Unsere Patientin drückt in der „Analsprache“ den Gedanken aus, dass sie eine Öffnung verschliessen müsse. Ein deutlich weiblicher Gedanke. Man stelle sich in Frauenkleidung eine Anzahl von Männern und Frauen in einem Saal vor, in den plötzlich eine Maus gelassen wird. Die Frauen werden sich sofort als solche verraten, indem sie die Kleider eng um die Beine ziehen werden, als ob sie der Maus den Eintritt verwehren wollten. Ebenso verrät die Furcht vor Löchern, vor dem Gebissen-, Gestochenwerden, Gedanken von Verfolgung durch Männer, durch Stiere, die Rückenlage, nach rechts, nach rückwärts gezogen werden, gedrückt werden, Fallen und Ähnliches, die weibliche, schreckende Leitlinie, auf die in der Regel mit der sichernden Angst reagiert wird.[1] Die Obstipation als neurotisches Symptom leitet sich aus einer angeborenen Darmminderwertigkeit ab, die unter Gedankengängen von Geburt und Geschlechtsverkehr im Anus zu nervösem


  1. Der gleiche männliche Protest führt in der Neurose zu Trismus, Blepharospasmus, Vaginismus, Sphinkterkrampf, Globus und Stimmritzenkrampf.
Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 83. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/91&oldid=- (Version vom 31.7.2018)