Die klimakterische Neurose zeigt uns demnach ein anderes Gesicht der durch den männlichen Protest bedingten Neurose, und die in ihr nachweisbaren Charakterzüge, — sekundäre Leitlinien, die in die Hauptlinie einzumünden bestimmt sind, — gleichen den uns bekannten Hypostasierungen. Ich habe nie einen Fall gesehen, bei dem die Neurose erst im Klimakterium ausgebrochen wäre. Und es ist ja auch nach unseren Voraussetzungen zu erwarten, dass die „klimakterische“ Neurose schon früher gelegentlich ihr Gesicht gezeigt hat. Manchmal in mässiger Weise, wenn die Gunst der Verhältnisse oder kulturelle Betätigungen durch teilweise Befriedigung des Machtkitzels den Ausbruch mildern konnten. Meist findet man eine seit Jahren währende Steigerung, ein Weitergreifen der neurotischen Symptome, das von vorneherein eine notwendig gewordene Verschärfung der Sicherungstendenz erraten lässt. Ein Beispiel wäre die Transformation von Kopfschmerzen und gelegentlicher Migräne in Trigeminusneuralgie. Oder die Steigerung der neurotischen Vorsicht in Angst, gelegentlich durch Eskomptierung eines zu erwartenden Unheils in Melancholie. Für diese 3 Stufen der Sicherung ist das im theoretischen Teil angedeutete Schema in Anspruch zu nehmen:
Vorsicht: z. B. als ob ich mein Geld verlieren könnte, „unten“ sein könnte. Angst: als ob ich mein Geld verlieren werde, unten sein werde. Melancholie: als ob ich mein Geld verloren hätte, unten wäre. Mit andern Worten, je stärker das Gefühl der Unsicherheit, um so mehr wird unter steigender Abstraktion von der Realität die Fiktion verstärkt und dem Dogma genähert. Und der Patient nährt und fingiert in sich Alles, was ihn näher an seine Leitlinie heranbringt. Die Realität wird dabei in verschiedenem Grade entwertet, und die korrigierenden Bahnen erweisen sich immer mehr als insuffizient. Nicht selten sieht man Fälle, bei denen in den uns bekannten pathogenen Zeiten neurotische Erscheinungen, wie im Experiment, zutage getreten sind. Kisch und andere haben auf die anamnestische Tatsache der neurotischen Beschwerden beim Eintritt der Menstruation hingewiesen. Häufiger findet man in der Vorgeschichte nervöse Molimina menstrualia oder Neurosen vor der Verehelichung, im Puerperium oder kontinuierlich. Nach diesen Erörterungen dürfen wir wohl die geschilderten Leitlinien einmünden lassen in die Hauptleitlinie des Neurotikers. Die Neurose alternder Personen ist nur ein anderes Gesicht, ein adaptierter, psychischer Überbau, errichtet, über der einen elementaren Richtungslinie: ich will ein Mann sein. Und diese Richtungslinie, die direkt zum Scheitern verurteilt wäre, bedient sich der verschiedensten Verkleidungen, ohne je eine befriedigende zu finden. Oft ist der Eindruck der einer grossen Ratlosigkeit, einer Resignation, als ob die Patienten sagen wollten, sie wüssten nicht, wie sie es anstellen sollen. In alle Pläne mengt sich der Zweifel, das Schwanken verlässt sie nicht, daneben aber sieht man übertriebene Darbietungen, als ob die Patienten sich beweisen wollten, dass sie zu alt, dass sie noch jung sind. Die Tendenz ist, Macht, Einfluss, Geltung zu gewinnen. Aber das Gefühl, Unerreichbares zu wollen, verlässt sie nicht. In den Träumen findet man regelmässig den Versuch, in irgend einer Weise dem männlichen Protest zum Durchbruch zu verhelfen, jung zu sein, sexuelle Befriedigung zu erlangen, Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 76. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/84&oldid=- (Version vom 31.7.2018) |