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jedem Begehren und Beginnen zurückschrecken. So liegen förmlich unter einer Decke, mühevoll dem Bewusstsein entrissen, die Regungen, welche andauernd Unzufriedenheit, Ungeduld, Misstrauen unterhalten, und lenken die Aufmerksamkeit unausgesetzt auf das Unerreichte und oft Unerreichbare. Recht häufig wird dieses im Bereich des Erotischen gesucht, oder das Sexuelle wird als Symbol des unerreichbaren Zieles aufgerichtet. In letzterem Falle, zu dessen Gelingen die grosse Eignung des sexuellen Symbols einerseits beiträgt, ferner aber auch der Umstand, dass der Beweis einer sexuellen Unbefriedigung jedem wohl gelingen dürfte, worauf es schliesslich ankommt, wird das ganze Wollen sexualisiert. Es ist leicht zu verstehen, dass diese Personen auf Grundlage einer sexuellen Analogie apperzipieren. Aber es muss der Fehler vermieden werden, die sexuelle Fiktion, sozusagen einen Modus dicendi oder wie ich es genannt habe, einen sexuellen Jargon für ein ursprüngliches Empfinden zu nehmen. Im theoretischen Teil habe ich auseinandergesetzt, warum beim Neurotiker die sexuelle Leitlinie so deutlich hervortritt: 1. weil sie wie alle Leitlinien beim Neurotiker erheblich verstärkt und sozusagen real empfunden wird, während sie nur arrangiert wurde, um als sichernde Richtungslinie zu wirken, 2. weil sie in die Richtung des männlichen Protestes führt. So kommt es, dass jedes Begehren der alternden Neurotikerin nicht bloss von ihr, sondern bei einiger Bemühung auch vom Arzte auf eine sexuelle Analogie bezogen werden kann. Auch dass der Arzt das immanente Bedürfnis des Neurotikers nach einer sichernden Analogie durch voreilige Darbietung der sexuellen Leitlinie im Stile der orthodoxen Freud’schen Schule befriedigen kann, geht aus dieser Betrachtung unzweifelhaft hervor. Ein Gewinn ist dies insolange nicht, als es nicht gelingt, den Patienten von seiner Fiktion loszulösen, was erst möglich ist, wenn er sicherer geworden ist und seine scheinbar libidinöse Regung als fälschende Fiktion erkennt.

Eine solche Fiktion ist beispielsweise das von früheren Autoren, von Freud und von Kurt Mendel beschriebene Klimakterium des Mannes. Das Klimakterium der Frau wirkt psychisch unbekümmert um Stoffwechselvorgänge durch die Steigerung des Minderwertigkeitsgefühls. Gleichzeitige Stoffwechselstörungen können bloss den neurotischen Aspekt verändern oder verstärken, sobald sie sich spezifisch, durch Verstärkung der Unsicherheit fühlbar machen. Die Basedowneurose bei klimakterischen Frauen gibt ein solches gemischtes und verstärktes Bild. Die Neurose des männlichen Klimakterium ist ebenfalls nur mittelbar durch die Genitalatrophie beeinflusst, kann aber eine Verstärkung erfahren durch die verschärfende Abstraktion: ich bin kein Mann mehr, ich bin ein Weib! — Da von diesem ideologischen Standpunkt aus die männliche Richtungslinie mit Aufmerksamkeit und arrangierten Erregungen verstärkt, hypostasiert wird, kommen die wunderlichen Erscheinungen des Johannistriebs zustande, für deren häufigen Bestand bei Frauen sich Karin Michaelis im „Gefährlichen Alter“ mit Recht eingesetzt hat. Nur dass die sexuelle Richtungslinie nicht die ausschliessliche oder gar die grundlegende ist, etwa wie sie eine biologische Betrachtungsweise zu erledigen versucht, sondern sie muss als eine Ausdrucksform, die andern Formen des Begehrens gleichgeordnet ist, betrachtet werden, wenn man den Tatsachen gerecht werden will.

Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 75. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/83&oldid=- (Version vom 31.7.2018)