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Kraft das Empfindungsleben sich einengte. So kommt es selten. Und um den Ersatz zu finden, peitscht der durch Unsicherheit gereizte Aggressionstrieb alle Regungen des Begehrens noch einmal auf. Das allgemeine Urteil stemmt sich diesen Versuchen oft allzusehr entgegen. Die Haltung, das Leben, das Begehren, die Kleidung, die Arbeit, die Leistungen alternder Personen unterliegen in zu hohem Masse der Kritik. Wer zur Neurose geeignet ist, wird diese Kritik leicht als Sperrung empfinden, und wird dort schon zurückschrecken, wo noch Befriedigungsmöglichkeiten bestehen. Er wird sich zur Unterwerfung nötigen, wird seine Gefühle und Wünsche morden wollen, ohne mit ihnen fertig zu werden. Ja heftiger noch lodern diese auf, wenn ohne Ausgleich ein Verzicht erzwungen wird. So kommt es, dass die aktiven, feindlichen Charakterzüge hervortreten, dass Neid, Missgunst, Geiz, Herrschsucht, sadistische Regungen aller Art Verstärkungen erfahren, und, nie befriedigt, eine Ruhelosigkeit erzeugen, die ununterbrochen auf Abhilfe, auf Ersatzmöglichkeiten, auf Sicherungen dringt. „Dort wo du nicht bist, dort ist das Glück!“ Denn die reale Position alternder Personen ist in unserer Gesellschaft schwer bedroht, da der Wert der Arbeit fast ausschlaggebend für die Schätzung der Persönlichkeit ist. Der Schein der Macht aber, das Prestige, ist das Brod des Neurotikers. Auch Selbstmord als letzten Ausdruck des männlichen Protests im Alter haben wir schon erlebt.

Stärker noch als bei Männern wirkt der Eintritt des Alters bei Frauen. Schon die Bedeutung des Klimakterium wird meist phantastisch übertrieben. Aber für die Frau war Jugend und Schönheit Macht, und dies mehr als beim Manne. Ihre Reize konnten ihr Herrschaft geben, Siege und Triumphe, wonach die neurotische Gier unausgesetzt verlangte. Das Alter trifft sie wie ein Makel. Dabei sinkt ihr Wert stärker als der des alternden Mannes, und die herrschende Psychologie ist der alternden Frau gegenüber geradezu feindselig zu nennen. Dieser bedauerliche Zug stammt aus der uns bekannten Entwertungstendenz des Mannes gegenüber der Frau, kooperiert mit dem psychischen Niederschlag aus unserem gesellschaftlichen Erleben, und bis zum Grab während, zeigt sich dieser neurotische Spross unversöhnlich und unausrottbar. Bewusst und unbewusst, oft durch die Natur der Verhältnisse unüberwindlich, drückt die herabsetzende Tendenz derer, die das Recht zum Leben haben, auf das Persönlichkeitsgefühl alternder Frauen. Kindesliebe und Ehrfurcht vor dem Alter als Hilfsmethoden und leitende Gesichtspunkte im Umgang der Menschen leisten oft nur das Mindestmass und können dem aufgepeitschten Wollen von Menschen, denen die Kraft schwindet, nie genügen. Da setzt der neurotische Zug zur Verstärkung der Leitlinien ein. „Ich bin verkürzt, ich habe zu wenig vom Leben gehabt, ich werde nichts mehr erreichen“, das hört man aus den Klagen alternder Neurotiker regelmässig heraus, und sie vertiefen diese Art, das Leben zu betrachten, so sehr, dass sie misstrauisch und argwöhnisch einem oft widerlichen Egoismus verfallen, wie er ihnen früher nie so deutlich geworden ist. Damit aber ist die Unentschlossenheit und der Zweifel stabilisiert. „Handle so, als ob du doch noch zur Geltung gelangen müsstest“, so ungefähr hebt sich eine andere Leitlinie aus der Psyche ab, und damit steigt nun die neurotische Verschärfung der Gier, und die geizigen, neidigen, herrschsüchtigen Regungen treten gewaltig in den Vordergrund, fast stets aber gehemmt durch die erstgenannten Leitlinien, gemäss welcher die Patienten vor

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Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 74. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/82&oldid=- (Version vom 31.7.2018)