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scheinbar immanente, in Wirklichkeit fiktive Leitlinie des Geizes, weil ihn diese am besten zu behüten scheint. Bekommt er, wie im Traume, was er schon in der Kindheit gewünscht, neue Genitalien, eine gesunde Potenz, dann muss er sich dagegen wehren. Und er greift zu einem Mittel, das er schon lange kennt, das ihm oft schon vergebens empfohlen wurde, zunächst immer aber seine Erektionen abschwächte, statt sie zu stärken, zu kalten Waschungen. Dieser in seiner Erfahrung mangelhaften Kur setzt er meine Behandlung gleich. Die Kur soll das Gegenteil von dem bewirken, was sie anstrebt, und der Arzt soll ebensowenig einen Erfolg erzielen wie die früheren Ärzte. So zeigt der Traum dem Patienten den Ausweg, sich vor der Heilung zu schützen und damit dem Arzte überlegen zu sein. „Dann sind es wieder alte Sachen“.

In anderen Fällen von psychischer Impotenz gelingt die Heilung leicht, und wie wir wissen, mit den verschiedensten Mitteln. Oft handelt es sich nämlich um nervöse Patienten, die schon durch ihren Gang zum Arzt zu verstehen geben, dass sie geneigt wären, diese Art von Sicherung aufzulassen. Nun helfen Medikamente, Kühlsonden, Elektrizität, hydropathische Kuren und insbesondere jede Art von Suggestion, auch die durch eine unvollkommene Analyse. Es genügt dann zuweilen die Autorität des ärztlichen Wortes, damit bestimmte Bedenken fallen. In den schweren Fällen ist eine Umwandlung der auf Sicherung allzu stark bedachten Psyche nötig.




Das Alter treibt oft den Neid und Geiz stark hervor. Psychologisch ist dies nicht schwer zu begreifen. Wie schön auch Dichter und Philosophen die Zeit des Alters auszuschmücken versuchen, nur den erlesenen Geistern dürfte es gegeben sein, ihr Gleichgewicht zu bewahren, wenn sie die Pforte, die zum Tode führt, aus der Ferne auftauchen sehen. Und die Entbehrungen und Einschränkungen, die natürlicherweise das Alter mit sich bringt, die fühlbare Überlegenheit jüngerer Menschen, Angehöriger, wie sie oft in harmloser Weise oder harmlosscheinend zu Zurücksetzung älterer Personen Anlass gibt, werden fast immer zur Herabdrückung des Persönlichkeitsgefühls führen. Die sonnige Bereitschaft Goethes, im „Vater Kronos“ erquickend zum Ausdruck gebracht, ist wohl für die meisten Menschen eine unerreichbare Illusion, und glücklich sind die zu preisen, die ohne schwere Beeinträchtigung des Gemütes den Verlust ihrer besten Zeit überdauern.

Nach unseren Voraussetzungen ergibt sich folgerichtig, dass die Zeit des Alterns wie eine dauernde Herabsetzung ein starkes Minderwertigkeitsgefühl auslöst. Insbesondere werden alle darunter leiden, bei denen neurotische Disposition vorliegt. Zuweilen bringt das Alter erst, das Klimakterium bei Frauen, Gefühle der Insuffizienz geistiger oder physischer Art, Anzeichen von Impotenz, Auflösung der Familie, Verheiratung eines Sohnes oder einer Tochter, auch Geldverluste oder Entsagungen von Ämtern und Würden den Zusammenbruch. Meist finden sich in der Vorgeschichte schon Spuren oder Ausbrüche neurotischer Erscheinungen. Das Alter mit seinen Einbussen wirkt wie andere Herabsetzungen des Persönlichkeitsgefühls. Der Aggressionstrieb sucht andere Wege, um eine Ausgleichung herbeizuführen, andere Wege, die leider in diesen Fällen nicht leicht zu haben sind. Leichter wäre der Verzicht, wenn gleichmässig mit dem Sinken körperlicher und geistiger

Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 73. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/81&oldid=- (Version vom 31.7.2018)