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Mannes deutlich in die Augen sprang. — In gleicher Richtung verwendete er gelegentlich auftauchende Erinnerungen an inzestuöse Gedanken, um sich seiner Schwäche, seiner verbrecherischen Neigung, sobald Frauen ins Spiel kamen, mit Schrecken bewusst zu werden. So stellte er seine Operationsbasis her, von der aus er sich vor dem weiblichen Geschlechte sichern musste, wodurch ihm eine dauernde Überlegenheit im Leben gewährleistet schien.

Der tiefste Kern seines Zwangs zur Sicherung vor der Frau war, er könnte in der Ehe, in der Liebe Enttäuschungen erfahren, die er seiner Unmännlichkeit zugeschrieben hätte. Da er sein neurotisches Ziel im Beweis seiner Macht suchte, musste er vorsichtig und zu neurotischen Umwegen geneigt werden. Auch bei diesem Patienten lagen frühzeitige Magen-Darmstörungen vor und als peripheres Minderwertigkeitszeichen der fatale Leistenbruch. Bei seiner Art der Liebesbetätigung bot sich der übertriebene Geiz als das brauchbarste Mittel zur Sicherung gegen eine zuweitgehende Hingabe. Sollte aber dieser Geiz etwas leisten können, so musste er den ganzen Kreis seiner Lebensbeziehungen umfassen und allgegenwärtig sein. Er musste selbst wieder gestützt und durch allerlei Winkelzüge befestigt werden. Unter anderem geschah dies durch das Arrangement von Zwangsgedanken. Wenn er ein Automobil benützte, kam ihm der Gedanke, es möge ein Zusammenstoss erfolgen. Ein näheres Eingehen auf diese Zwangsidee ergab, dass er nicht im Entferntesten an diese Möglichkeit glaubte, dass er aber allen teuren Fahrgelegenheiten auswich. Ja sogar, wenn er eine längere Strecke mit der Trambahn fuhr, kam ihm am Ende der billigeren Zone der Gedanke an einen Zusammenstoss, oder an das Einstürzen einer zu befahrenden Brücke, so dass er fast immer den geringeren Fahrpreis bezahlte, einige Heller ersparte und den Rest des Weges zu Fuss ging. Er war auf der Linie, sich jede Ausgabe zu verbittern.

So kam es auch, dass er, um eine einheitliche Haltung zu gewinnen, in gleicher Weise die Herabsetzung des Mannes anstrebte. Schon bei seiner Jagd auf verheiratete Frauen kam dies zum klaren Ausdruck, und es befriedigte ihn die Bestürzung und Enttäuschung der verführten Frauen, die Schimpfworte, die er ihr nachträglich gab, nicht weniger als die Genugtuung, sich wieder einmal als der Stärkere gezeigt zu haben. Dies wurde nachgerade zum Inhalt seines Lebens, die Formverwandlung, in der sich seine ursprüngliche Fiktion, der Männlichste zu werden, annähernd erfüllt hatte. Nur die Furcht vor der Frau, die ihn ursprünglich, gleichgerichtet mit der Empfindung seiner eigenen Weiblichkeit, zu seinem übertriebenen männlichen Protest gebracht hatte, fand sich wieder in der übergrossen Sicherung vor der Überlegenheit der Frau, und liess ihn als Schutzdamm sein Misstrauen und seinen Geiz, die beide trefflich argumentieren konnten, masslos verstärken. Von dieser Sicherungstendenz fortgerissen fixierte er zudem noch die psychische Impotenz, die er bei seinen ersten Versuchen kennen gelernt hatte. Ein Dienstmädchen, das er als Jüngling verführen wollte, leistete ihm Widerstand und weigerte sich ihm mit geschlossenen Beinen. Er war damals unerfahren und hielt sich für impotent. Später, als er gelehriger geworden war, empfand er seine Unerfahrenheit so, als ob das Weih für ihn ein Rätsel, unergründbar sei. In der ursprünglichen Impotenz aber und in seiner Ratlosigkeit der Frau gegenüber fand er

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Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 70. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/78&oldid=- (Version vom 31.7.2018)