seiner Phantasie, die Gleichheit der Genitalien herzustellen. Das 49. Jahr hat in der alten jüdischen Gesetzgebung, die er kurz vorher kennen gelernt hatte, die Bedeutung des Jubeljahres, in dem alle Äcker wieder gleichgemacht wurden. Einfälle dieser Art und das gleichzeitige Verstecken der Genitalien wiesen der Deutung den Weg. Man konnte nun bereits den Schluss machen, dass auch sein Stottern eine Überlegenheit wett machen sollte, die Überlegenheit des Vaters, aller Menschen, indem es ihnen zum Hindernis, oft zur Pein wurde.
Sein Geiz, seine Sparsamkeit waren demnach in der gleichen Richtung tätig, Überlegenheiten Anderer aus dem Felde zu schlagen, ihn vor Demütigung und weiterer Verkürzung durch Verarmung zu sichern, und so musste er diese sekundären Richtungslinien stark ausdehnen und seine Erlebnisse nach ihnen formen und werten, um zur Erhöhung seines Persönlichkeitsgefühls, zum männlichen Protest zu gelangen. Nur bei Anlässen, wo ihm durch Lautwerden dieser Charakterzüge eine Beeinträchtigung seines Selbstgefühls erwachsen wäre, unterdrückte er ihre offene Betätigung.
Es wäre ein Unding, in einer medizinisch-psychologischen Frage einen Standpunkt der Moral einnehmen zu wollen, etwa Personen wie die obige als moralisch minderwertig zu beurteilen. Diejenigen, die Neigung dazu verspüren, erinnere ich an die überaus starken, kompensatorischen, wertvollen Charakterzüge, im Übrigen aber an die weise Sentenz Larochefoucaulds, der also urteilte: „Ich habe nie die Seele eines schlechten Menschen untersucht, aber ich habe einmal die Seele eines guten Menschen kennen gelernt: ich war erschüttert!“
In einem, anderen Falle zeigt sich der Charakter des Geizes nicht allein als Hilfskonstruktion, um ein Gefühl der Verkürztheit zu kompensieren, sondern vor allem als Kunstgriff, der der Sicherungstendenz dient. Ein 45jähriger Patient, der zeitlebens an psychischer Impotenz litt und von Suicidgedanken verfolgt war, zeigte eine besonders starke Neigung, Andere herabzusetzen. Wir kennen diesen Charakterzug aus der Schilderung des vorigen Falles, wo er, wie immer, dazu diente, das eigene Gefühl der Minderwertigkeit aufzuheben. Mit dieser Tendenz sind regelmässig gesteigertes Misstrauen und Neid verbunden, die als neurotische, psychische Bereitschaften das Aufsuchen und Werten der Erlebnisse zu verfälschen haben. Auch eine Neigung, anderen in irgend einer Weise körperlichen oder seelischen Schmerz zu bereiten, wird sich dabei in versteckter Weise immer durchzusetzen wissen. Der abstrakte leitende Gesichtspunkt des Patienten, seine herrschende Stellung zu sichern, „oben zu sein“, schien offenbar bedroht und zwang zur Verstärkung fiktiver Richtungslinien. Aus der Kinderzeit kamen Erinnerungen zur Verwendung in der Neurose, denen zufolge er einem Homosexuellen fast zum Opfer gefallen wäre. Er war unter Schwestern als einziger Knabe aufgewachsen, eine Situation, die nach meiner Erfahrung das Verständnis für die eigene Geschlechtsrolle häufig beeinträchtigt. Wichtig war seine Stellung zum Vater, weil sie ihn auch zu verstärkten Sicherungen zwang. Der Vater war nämlich brutal, egoistisch, tyrannisch, so dass es dem Knaben schwer fiel, sich neben ihm in offener Weise zur Geltung zu bringen. Einige Liebesabenteuer hatten den Vater in recht schwierige Situationen gebracht, die unser Patient in seiner entwickelten Neurose als Memento verwendete. Sein Misstrauen wendete sich gegen alle Frauen. Seinen
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 68. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/76&oldid=- (Version vom 31.7.2018)