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war, als er später in eine unsichere Situation geriet und das Mass des Vaters auf geradem Wege nicht erreichen zu können glaubte, unter dem Drucke seines Ehrgeizes zu dem Kunstgriff Zuflucht nahm, durch Beibehaltung eines Kinderfehlers, des Stotterns, den Vater von dessen Ohnmacht, vom Fehlschlagen seiner Erziehungspläne zu überzeugen. Er verdarb durch das Stottern dem Vater das Spiel, weil er nicht der erste sein, weil er ihn nicht überflügeln konnte.

Unsere Kultur gibt aber den Kindern grossenteils recht, die in der Ansammlung von Geld den Weg zur Macht erblicken. Also geleitet nahm sein Wille zur Macht die äussere Form der Sparsamkeit und des Geizes an, indem er diese noch überspannte. Erst der Widerspruch zwischen offenen niedrigen Geizbetätigungen und dem Persönlichkeitsideal zwang zum Verstecken der Geizregung, mit deren Hilfe er dem Vater überlegen werden wollte, und erzwang das Stottern als Ersatz.

Im weiteren Verlaufe der Analyse zeigte sich der Ausgangspunkt seines verstärkten Strebens nach Besitz. Er litt in den ersten Lebensjahren fast unausgesetzt an Magen- und Darmbeschwerden, die sich als Ausdrucksform einer angeborenen Minderwertigkeit des Ernährungstraktes geltend machten. Auch in der Familie spielten Magen- und Darmerkrankungen eine grosse Rolle. Der Patient erinnerte sich sehr genau, wie oft er trotz Hungergefühls und Begehrlichkeit wohlschmeckende Speisen entbehren musste, während Eltern und Geschwister sie behaglich verzehrten. Wo er konnte, sammelte er Speisen, Bonbons und Früchte, um sie später schmausen zu können. In dieser Neigung zum Sammeln sehen wir bereits die Wirkung der vorbauenden Sicherungstendenz, die beständig daran arbeitet, das Verkürzungsgefühl irgendwie auszugleichen.

Wie weit sie aber reicht, kann uns etwa ein konstruiertes Beispiel zeigen, das ich mit Analogien aus unserem Fall belegen kann. Die Gier nach Macht und damit nach Besitz kann durch das Gefühl der Minderwertigkeit so aufgepeitscht werden, dass man sie an Stellen der psychischen Entwicklung trifft, wo man sie kaum vermutet. Ein derartiger kleiner Patient wird wohl anfangs den Apfel wünschen, der ihm verwehrt ist, wenn er dem Vater oder Bruder beim Essen zusieht. Es wird sich der Neid regen, und nach kurzer Zeit kann ein solches Kind in seinen Überlegungen und im Vorausdenken soweit sein, — aus Gleichheitsbestrebung — es zu verhindern, dass der andere etwas voraus haben könnte. Es wird auch den Ausbau dieses gewiss wenig bedeutungsvollen Gedankens bald so weit vollzogen haben, dass es Vorbereitungen und Bereitschaften parat hält, es wird sich, besonders bei ursprünglicher muskulärer Unfähigkeit, das ganze Jahr im Klettern und Springen üben, um im Herbst als Meister einen Baum erklimmen zu können. Die menschliche Psyche ist nicht imstande, jederzeit über fiktive Endziele Rechnung zu legen, und so kann dieses Kind, scheinbar losgelöst von seinem Endziel, seine Bereitschaft für Sport und Gymnastik in den Dienst anderer Tendenzen stellen, die auf andere Weise dem Persönlichkeitsgefühl dienen, etwa wie unsere modernen Staaten Kriegsrüstungen betreiben, ohne auch nur den künftigen Feind zu kennen.

Der Vater unseres Patienten konnte leicht von dem Knaben als beiläufiges Vorbild genommen werden, da er an Grösse, Kraft, Reichtum und sozialer Stellung seine Umgebung überragte. Wollte der kleine Junge

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Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 65. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/73&oldid=- (Version vom 31.7.2018)