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heraus, dass sie als sekundäre Leitlinien nach dem Bilde des Vaters, der Mutter oder stellvertretender Personen erworben und keineswegs angeboren sind. Die neurotische Psyche findet sie im eigenen oder in einem vorbildlichen Material vor, als welches für viele Fälle auch das Doppelspiel, die Bewusstseinsspaltung der menschlichen Gesellschaft zu gelten hat. Der Kunstgriff der Neurose aber ist es dann, die für den fiktiven Zweck der Persönlichkeitserhöhung oft ungeeigneten, feindseligen, aggresiven Züge zu verbergen, zu verändern, den gleichen Zweck vielmehr noch intensiver auf Umwegen, oft durch entgegengesetzte Charakterstimmungen und durch neurotische Symptome zu erreichen. Man überzeugt sich dann leicht, dass die übertriebene Freigebigkeit solcher Patienten dem gleichen Ziel des „Willens zur Macht“ gehorcht, dem sich der Kranke auch durch Steigerung seines Aggressionstriebs, seiner Begehrlichkeit, seiner Sparsamkeit zu nähern versucht.

Einer meiner Patienten, der wegen Stottern und Depressionszuständen in meine Behandlung kam, liess für seine Umgebung nur die Züge der Freigebigkeit erkennen. Eines Tages übergab er einem Institut eine grössere freiwillige Spende, und erzählte mir dies, indem er scheinbar unvermittelt daran die Bemerkung knüpfte, er sei heute besonders deprimiert. Dabei trat auch sein Stottern stärker hervor. Der verstärkte Zustand seiner Neurose erwies sich als eine Folge seiner Freigebigkeit, durch die er sich nun verkürzt fühlt, und man ist berechtigt, den wahren Charakter in weiteren Handlungen, Gedanken oder Träumen, parallel laufend den hervortretenden neurotischen Symptomen zu erwarten, nicht etwa, weil er den Geiz oder eine entsprechende Sexualregung „verdrängt“ hatte, sondern weil er sich von seinem Ziel: Vermehrung des Besitzstandes, zu weit entfernt hatte. Er muss nun etwas tun, um wieder dahin — zurückzukehren. „Es war schon spät in der Mittagszeit“, so erzählte er weiter, „ich verspürte starken Hunger, und zudem erwartete mich mein Freund in einer Restauration, wo wir zusammen speisen wollten. So musste ich also den (weiten) Weg dahin gehen. Mein Freund wartete noch. Nach dem Essen wurde es mir etwas besser.“ Das heisst, er begann sofort wieder zu sparen und ging zu Fuss, trotz Hunger, Depression und Rendez-vous. Nebenbei konnte er so den Freund warten lassen, was für viele Neurotiker die verdeckte Art ist, ihre Herrsucht zu betätigen.

Die allerersten Äusserungen, Handlungen, Mitteilungen des Patienten beim Arzte enthalten oft das Wesentliche aus dem Krankheitsmechanismus und aus der Charakterbildung. Es rührt dies daher, weil der Patient noch nicht die Vorsichtsbereitschaft dem Arzt gegenüber besitzt. Als obiger Patient sich mir vorstellte, erzählte er mir unaufgefordert, sein Vater sei nicht wohlhabend, und er könne für die Behandlung keine grossen Opfer bringen. Nach einiger Zeit kam während der Behandlung notgedrungen das Geständnis zutage, dass er mich in diesem Punkte belogen habe, um einen geringeren Honoraransatz zu erzielen. Auch in vielen anderen Beziehungen erwies er sich als geizig. Aber gleichzeitig versuchte er sich und insbesondere andere darüber zu täuschen. Beide Züge besass auch der Vater, und unser Patient war von diesem mit besonderem Nachdruck auf die Sparsamkeit hingelenkt worden. Oft hatte man es ihm vorgesagt: „Geld ist Macht, für Geld kann man alles haben!“ So konnte es nicht fehlen, dass unser Patient, der bereits in der Kindheit sehr ehrgeizig und herrschsüchtig

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Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 64. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/72&oldid=- (Version vom 31.7.2018)