Ich will zuerst von Charakterzügen sprechen, die sich mit gewisser Regelmässigkeit bei allen Nervösen nachweisen lassen, und die in der Weise zum Ausdruck kommen, dass der Patient mit grosser Gier, direkt oder auf Umwegen, bewusst oder unbewusst, durch zweckmässiges Denken und Handeln, oder durch das Arrangement von Symptomen nach vermehrtem Besitz, nach Vergrösserung seiner Macht und seines Einflusses, nach Herabsetzung anderer Personen und Verkürzung derselben strebt. Meist finden sich alle diese Formen des Eigennutzes beisammen und erst nach besserer Einsicht erkennt man das gewaltige Überwiegen der Umwege, durch die der Patient sich und seine Umgebung täuscht. Er täuscht auch die Wissenschaft. Denn während er beispielsweise den Uneigennützigen spielt, findet man in seinen Anfällen, in seiner Neurose, zugleich aber in dem durch letztere erzielten Endeffekt die verstärkte Gier wieder, von der wir eingangs gesprochen haben; er erweckt so den Eindruck eines Doppel-Ichs, an Spaltung des Bewusstseins Leidenden, und während ein fiktiver Endzweck ihn stärker als den Gesunden das Schema des Geizes, des Neides, der Herrschsucht, der Bosheit, der Rechthaberei, der Gefallsucht auf verborgenen Wegen einhalten lässt, darf er offen, — auch aus Gefallsucht etwa, — den Wohltäter und Gönner, den Friedensstifter und uneigennützigen Heiligen spielen. Nicht ohne dass dieses Spiel gewöhnlich zum Unheil ausschlägt, etwa wie Gregor Werles Wahrheitsfanatismus in Ibsens „Wildente“. Man kann die Sucht des Neurotikers, alles haben zu wollen, nicht stark genug ansetzen, seine Gier, der erste sein zu wollen, unmöglich übertrieben darstellen, — wenn auch die offen zutage liegenden Charakterzüge das widersprechendste Bild dazu liefern. Was den Patienten wirklich treibt, ist das eindeutigste Verlangen nach ausschliesslicher Macht, und da sein Persönlichkeitsgefühl an vielen seiner Mittel Anstoss nimmt, auch die Macht anderer seinen Triumph hindern könnte, verbirgt er die verwehrten Charakterzüge vor sich und den anderen, und als verständnisvoller Kenner feindseliger Regungen und deren Unbeliebtheit, lässt er sich im Tageslicht, in seinen „bewussten Regungen“ von dem Ideal der Tugend leiten. Dabei verrät sich sein verstärkter Aggressionstrieb dennoch, und zwar im Traume, in unbeherrschten Handlungen, in Haltung, Mimik und Geberde und in jenem psychischen Geschehen, dessen Ausdruck die Neurose ist.
Bezüglich der Frage der Vererbung derartiger Charakterzüge, ja auch ihrer antagonistischen Anordnung, stellt sich in der Regel
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 63. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/71&oldid=- (Version vom 31.7.2018)