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wenn, wie beim Neurotiker, die ausschliessliche männliche Wertung des Ideals auf sein Minderwertigkeitsgefühl reflektiert und dieses als weiblich erscheinen lässt.

Die Grundlage der Familienerziehung bringt es mit sich, dass die ersten Versuche, zu einem Persönlichkeitsideal zu gelangen, Entlehnungen von Zügen der höchstgewerteten Familienpersönlichkeit, zumeist des Vaters, vorstellen. Neurotisch disponierte Kinder, die in der Gegenüberstellung des Vaters eine Verstärkung ihres Minderwertigkeitsgefühles empfinden, treffen alsbald Vorbereitungen und konstruieren Kampfbereitschaften, als ob sie den Vater überflügeln müssten. In diesen vorbereitenden Versuchen liegt auch die Einstellung zum anderen Geschlecht, soferne der Intellekt des Kindes nicht bezüglich seiner eigenen Geschlechtsrolle fehlgreift, und viele seiner für die Zukunft bestimmten Bereitschaften werden anticipando in spielerischer Weise[1] gegenüber Familiengliedern des anderen Geschlechts wachend oder halluzinatorisch, im Traume, probeweise geübt.

Dass dem Knaben dabei die Mutter in gewissem Sinne ein Muster abgibt, ist seit langem bekannt, insbesondere von Nietzsche hervorgehoben worden. Dabei ist die Grenze, die sich das Kind setzt, Sache einer Erprobung durch das Kind. Seine Wünsche sind, im Falle es neurotisch disponiert ist, masslos. Unzufrieden durch die übergrosse Distanz zu seinem Persönlichkeitsideal, kommt es auch zu Sexualwünschen in bezug auf die Mutter, ein Beweis, wie grenzenlos angespannt der Wille zur Macht ist. Eine Fixierung einer Sexualbeziehung aber muss andere Gründe haben als einmal gehegte Wünsche im Bereiche einer gewissen Masslosigkeit. Das Begehren des Knaben greift auch auf andere weibliche Personen seiner Umgebung. Das Bild ist dann wieder wie bezüglich der Perversion. „Die Mutter besitzen wollen“ wird zum Zeichen seiner Unzufriedenheit, zum Symbol seiner Masslosigkeit, seines Trotzes und seiner Furcht vor anderen Frauen. Nun kann im späteren Leben eine „Fixierung“ an die Mutter aus ähnlichen Konstellationen eintreten, nicht aber weil der Wunsch ehedem libidinös war. Denn es ist gleichgültig, welcher Art die reale Beziehung zur Mutter war, — die Psyche des Nervösen wird sie stets in irgend einer Art zur Sicherung verwenden.

Hier interessiert uns vor allem das Motiv der Unzufriedenheit. Es entspringt aus dem Gefühl einer Verkürzung, und es ist klar, dass das Kind vom „Wachsen“ alle Erfüllungen erwartet. Nach der Psychologie des „als ob“ kann es sein Heil vom Wachstum seines Körpers, seiner Haare, seiner Zähne, seines Genitalorgans erwarten. Speziell seine Erfahrungen von den Zähnen sind geeignet, ihm den Eindruck zu hinterlassen, dass etwas nachwachsen könne. In Träumen und Phantasien spielt das Zahnmotiv häufig hinein, bei Mädchen, um ihre Hoffnung, ein Mann zu werden, festhalten zu können, bei Knaben, um ihre Sehnsucht nach voller Männlichkeit darzustellen. Reisst man einen Zahn, Milchzahn, aus, so wächst ein neuer, stärkerer. Das „Ausreissen des Zahnes“ im Traume steht demnach für den Wunsch, ein Mann zu werden.

Neurotische Männer wie Frauen sind voll des Gefühls der Verkürzung, und ihr ganzes Leben verläuft in der Suche nach einer


  1. S. „Zur Lehre vom Widerstand“ l. c.
Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 56. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/64&oldid=- (Version vom 31.7.2018)