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oder Verschleierung eines Sachverhalts durch Entstellung bezweckt wird, erweist sich als die Wirkung der Sicherungstendenz, die den Formenwandel der Fiktion in der Neurose wie im Traume intendiert, und in entsprechender Entfernung dem Widerspruch in der männlichen Leitlinie durch einen Umweg zu entgehen sucht. Andere „Entstellungen“ liegen im Wesen des abstrakteren Traumdenkens und in seinem Charakter als einer blossen Spiegelung.

6. Die Symbolik und der Kunstgriff der Analogie im Traume sind formalinhaltliche Ausstrahlungen dynamischer Affektverstärkungen, ihre Wortbilder sozusagen. Sie sind der psychische Überbau über ein Junktim zwischen psychischer Situation und einem tendenziös, meist fälschlich — sophistisch herangezogenen Memento, das die von der „Idee“ geforderte Resonanz beibringen muss.

Die von Freud behauptete Erfüllung von infantilen Wünschen im Traume löst sich also für mich auf in einen Versuch des Vorausdenkens, um zur Sicherung zu gelangen, wobei tendenziös gruppierte Erinnerungen, keineswegs die libidinösen oder sexuellen Wünsche der Kindheit als Memento zu Hilfe genommen werden, ein psychischer Kunstgriff, der auch das logische Denken beherrscht. Das Wesen der Neurose sowie ihrer Träume und ihres Wahns bieten als einzig Unterscheidendes von der Norm die durch die verstärkte Fiktion verstärkte Tendenz zur Auswahl der wirksam gemachten Erinnerungen, kurz gesagt: die neurotische Perspektive. — Der Neurotiker leidet nicht an Reminiszenzen, sondern er macht sie.

Ist einmal dieser zur Orientierung und zur Sicherheit des Handelns unbedingt nötige Vergleichspunkt gefunden, der um so höher eingestellt wird, je drückender das Gefühl der Minderwertigkeit auf dem Kinde lastet, so muss er aus obigen Ursachen, aus dem Zwang des Vergleichens und des kindlichen Ausrichtens stabilisiert, hypostasiert, für heilig, göttlich erklärt werden. Auf der einen Seite stehen die realen Bedingungen und Bewegungen des Subjekts, auf der anderen als kompensierende Folge des Minderwertigkeitsgefühls der Gott, die leitende Idee, bildlich apperzipiert in einer Person, in einem Geschehen. Dieser letztere ideelle Punkt wirkt nun so, als ob ihm alle richtende Kraft gegeben wäre. So entsteht erst aus dem organischen, objektiven Leben das, was wir Seelenleben, Psyche nennen.

Jeder Schritt des Kindes richtet sich in diesem System und wird von ihm gerichtet. Es ist ein fortwährendes Abwägen, Tasten, Vorbereiten, Bereitschaftenstellen und Messen am Ideal, was das Kind in seiner Entwickelung vorwärts bringt. Es misst sich am Manne ebenso wie an der Frau, wobei die Gegensätzlichkeit der Geschlechter abermals eine Hilfslinie ergibt und eine psychische Ausrichtung nach einer entgegengesetzten, in gewissem Sinne feindlichen, ausweichenden Linie, der männlichen, erzwingt. Beim neurotisch disponierten Kinde bringt die durch das Unsicherheitsgefühl gesteigerte kompensatorische Sicherungstendenz unter Anspannung der Aufmerksamkeit die abstrakt — neurotisch vertieften Richtungslinien zum überspannten Ziel des männlichen Protestes zuwege. Und die schärfer gefasste Gegensätzlichkeit der Geschlechter schafft früher und eindringlicher die vorbereitenden Stellungen zum anderen Geschlecht, um somehr,

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Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 55. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/63&oldid=- (Version vom 31.7.2018)