dessen Wahn, — durch Analyse korrigierbar, — ihr wertvolles Analogon im Γνῶϑι σαυτόν des erhabenen Philosophen hat. Der meist unkorrigierbare Wahn in den Grübeleien und phantastischen Selbstbeobachtungen des Psychotikers, der um vieles leichter als arrangierter Wahn zum Zwecke der Sicherung des Persönlichkeitswertes zu durchschauen ist, lehrt uns den Wahn in den Selbstbeobachtungen des Neurotikers verstehen.
Das Streben des Nervösen nach Sicherheit, seine Sicherungen selbst, können demnach nur betrachtet werden, wenn man den ursprünglichen, entgegengesetzten Wertfaktor der Unsicherheit mitbetrachtet. Beides sind Ergebnisse eines nach Gegensätzlichkeit gruppierenden Urteils, welches in Abhängigkeit von dem fiktiven Persönlichkeitsideal geraten ist, und das ihm tendenziöse, „subjektive“ Wertungen darbietet. Das Gefühl der Sicherheit und das seines Gegenpols der Unsicherheit, eingeordnet dem Gegensatzpaar von Minderwertigkeitsgefühl und Persönlichkeitsideal, sind wie das letztere ein fiktives Wertpaar, ein psychisches Gebilde, von welchen Vaihinger hervorhebt, „dass in ihnen das Wirkliche künstlich zerlegt ist, dass sie nur zusammen Sinn und Wert haben, einzeln aber durch Isolation auf Sinnlosigkeit, Widersprüche und Scheinprobleme führen“. In der Analyse von Psychoneurosen kommt nun regelmässig zum Vorschein, dass sich diese Gegensatzpaare analog dem einzig realen „Gegensatz“ von „Mann — Frau“ zerlegen, so dass Minderwertigkeitsgefühl, Unsicherheit, Untensein, Weiblichkeit auf die eine Seite der Gegensatztafel, Sicherheit, Obensein, Persönlichkeitsideal, Männlichkeit auf die andere Seite gelangen. Die Dynamik der Neurose kann demnach so betrachtet werden, wird auch in ihren Ausstrahlungen auf die Psyche des Nervösen von diesem oft so erfasst, als ob der Patient sich aus einer Frau in einen Mann verwandeln wollte. Diese Bestrebungen ergeben in ihrer bunten Fülle das Bild dessen, was ich männlichen Protest genannt habe.
Die Stärke des männlichen Einschlags im Kulturideal sowohl wie insbesondere in der fiktiven Leitlinie des Nervösen, wie wir sie im Wollen, Handeln, Denken, Fühlen unserer Patienten, in ihren Einstellungen zur Aussenwelt, in ihren Vorbereitungen fürs Leben und in ihren Bereitschaften, in jedem Charakterzug, in jeder physischen und psychischen Geste finden, — die die Kraft des Aufschwungs gibt und die Linie des Lebens nach oben richtet, lässt erraten, dass am Beginne der psychischen Entwickelung ein Mangel an solcher Männlichkeit empfunden wurde, und dass das ursprüngliche Minderwertigkeitsgefühl des konstitutionell beeinträchtigten Kindes aus diesem Gegensatz heraus auch als weiblich gewertet wird. Was immer dem Minderwertigkeitsgefühl zugrunde lag, — wenn die starke neurotische Sicherung durch Aufstellung der männlichen Fiktion eingeleitet wird, fällt der supponierte Grund der kindlichen Unsicherheit und diese selbst infolge der neurotischen, gegensätzlichen Gruppierung unter die als weiblich gewerteten Erscheinungen. Die Empfindung der Kleinheit, der Schwäche, der Ängstlichkeit und Unbeholfenheit, der Krankheit, des Mangels, der Schmerzen etc., löst dann im Neurotiker Reaktionen aus, als ob er sich gegen eine ihm innewohnende Weiblichkeit zur Wehre setzen, also männlich und stark reagieren müsste. In gleicher Weise erfolgt diese Antwort, reagiert die Affektbereitschaft des männlichen Protestes gegen jede Herabsetzung, gegen das Gefühl der Unsicherheit, der Verkürztheit,
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 50. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/58&oldid=- (Version vom 31.7.2018)