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welche dieser Mangel in Gesellschaft bereitete, suchte ich zu überwinden und ging arglos an manchem vorüber, was einen schärferen Beobachter beunruhigen konnte. — Die Freude an Blütenpracht und dem Schmuck der Kleider, an merkwürdigen Gesichtern und Frauenschönheit, den strahlenden Blick, den holden Gruss aus der Ferne musste ich oft entbehren, während andere sich daran freuten. Aber da die Seele sich behend in Mängel der Sinne einrichtet, so entwickelte sich schon früh in mir ein gutes Verständnis solcher Lebensäusserungen, die in meine Sehweite kamen und ein schnelles Ahnen von Vielem, was mir nicht deutlich wurde; die geringere Zahl der Anschauungen gestattete, die empfangenen ruhiger und vielleicht inniger zu verarbeiten. Jedenfalls war der Verlust grösser als der Gewinn. Darin aber hatte der Vater recht, meine Augen bewahrten durch das ganze Leben unverändert den scharfen Blick in der Nähe.“

Denkt man sich die Entwickelung einer derartigen visuellen Phantasie, die immerhin schon bedeutend von der Wirklichkeit abstrahiert, unter dem Druck der Sicherungstendenz aufgestachelt, so ergibt sich zum gleichen Zweck der Sicherung wie im obigen Beispiel die Ausbildung einer visuell-halluzinatorischen Fähigkeit, die sich, wenn es sich um die Aufstellung eines sichernden Mementos oder eines beruhigenden Selbstzuspruchs handelt, auch ausserhalb des Traumzustandes geltend machen kann. Die Abstraktion, aber auch die Antizipation ist dann noch weiter vorgeschritten und kann bei „Telepathen“ oder Kassandranaturen zu den bekannten auffallenden pathologischen Äusserungen führen. Einen ungeheuren Ansporn zu diesem Hinausgreifen über die den Menschen gesteckten Grenzen bietet, wie immer, das peinigende Minderwertigkeitsgefühl, das, auf die Schwäche bezogen, den Anderen die grössere Fähigkeit des Sehens bis zu dem Grade zumutet, als ob diese etwa Verborgenes sehen, das Innere erforschen könnten. Die Sicherungstendenz des Kindes mit seinen Heimlichkeiten kann frühzeitig gerade diesen Punkt zur eigenen Sicherung aufgreifen, und unter der fiktiven Annahme handeln, als ob Andere ihm „bis ins Herz“ sehen, seine innersten Gedanken erraten könnten, eine Annahme, die als Kunstgriff in der Neurose und Psychose öfters auftritt und gerade so viel wert ist, als etwa vergröberte Schuldgefühle und eine neurotische Gewissenhaftigkeit, und dazu bestimmt ist, einer drohenden Herabsetzung des Persönlichkeitsgefühls, der Schande, der Strafe, dem Spotte,[1] der Erniedrigung, der weiblichen Rolle, dem Tode vorzubeugen.

Die stärkere Fähigkeit des Nervösen zur Abstraktion und Antizipation liegt nicht bloss seinem halluzinatorischen Charakter, seiner Symptombildung, seinen Phantasien und seinen Träumen zugrunde, sondern auch den scheinbaren Überspannungen von Organfunktionen, die er durch tendenziöse Überwertung zu Kampfbereitschaften ausgestaltet. So gewinnt die Neurose Raum durch abstrakteres Voraussehen und Vorausdenken, formt aus ihnen die regelmässig vorzufindende neurotische Vorsicht, mittelst deren der Patient prinzipiell und in scharf gegensätzlicher Gruppierung nach dem Schema: „Triumph-Niederlage“ die Möglichkeiten des Erlebens dauernd in Evidenz hält. Oder er setzt durch Steigerung seiner Organempfindlichkeiten, einer Vorstufe der Halluzinationen, durch Empfindlichkeit


  1. Über neurotische Disposition l. c.
Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 44. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/52&oldid=- (Version vom 31.7.2018)