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als ein Prinzip der Teleologie erfassten, was ein berechneter Versuch zur Orientierung nach einem als fix angenommenen Punkt war.

Die Hilfsvorstellung der natürlichen Auslese ist ohnmächtig, alle diese bei jeder Gelegenheit neu und anders beanspruchten Folgen zu erklären. Unsere Erfahrung gebietet unweigerlich, alle diese Erscheinungen abhängig zu machen von einer unbewusst wirkenden Fiktion, als deren schwächliche, bewusste Ausstrahlung wir Endzwecke finden, nach denen sich letzter Linie die Auffassung unseres Erlebens und unser Handeln richtet.

Es ist leichter, die Details dieser leitenden Fiktion nachzuweisen, als die Fiktion, den fiktiven Endzweck selbst zu benennen. Die bisherige psychologische Forschung hat verschiedene solcher Endzwecke namhaft gemacht. Für unsere Betrachtung genügt die kritische Behandlung zweier derselben. Die meisten Autoren entschieden sich dahin, alle menschlichen Handlungen und Willensregungen als von Lust- oder Unlustempfindungen aus beherrscht anzunehmen. Eine oberflächliche Betrachtung scheint ihnen auch recht zu geben, denn in der Tat ist die menschliche Psyche zum Aufsuchen der Lust, zur Vermeidung der Unlust geneigt. Aber der Boden dieser Theorie schwankt. Es gibt kein Mass für das lustvolle Empfinden, ja nicht einmal für das Empfinden schlechtweg. Es gibt ferner keine Wahrnehmung, keine Handlung, die nicht nach Zeit und Ort verschieden, bei dem einen lustvoll, beim andern Unlust erregend wirken könnte. Und selbst die primitiven Empfindungen der Organbefriedigung erweisen sich als abgestuft und abstufbar je nach dem Sättigungsgrad und im Zusammenhang mit kulturellen Leitlinien, so dass nur grosse Entbehrungen es vermögen, die Befriedigung zum Zielpunkt zu machen. Ist diese dann eingetreten, — sollte wirklich die Psyche dann ihre Richtungslinie verlieren? Die Nötigung der Psyche, Orientierung und Sicherheit zu gewinnen, erfordert zu ihrem Ausbau und zu ihren Leistungen einen festeren Standpunkt als das schwankende Prinzip der Lusterfahrung und einen stärker fixierten Blickpunkt als das Ziel der Lustgewinnung. Die Unmöglichkeit, sich daran zu orientieren und sein Handeln einzurichten, zwingt auch das Kind, derartige Versuche aufzugeben. Endlich ist es ein Missbrauch einer Abstraktion, wenn aus den verschiedenartig zusammengesetzten psychischen Bewegungen mittelst einer Petitio principii als leitendes Motiv die Suche nach Lust herausgeholt wird, während man vorher schon jede Regung als lustsuchend, — libidinös erklärt hat. Schillers Scharfblick, der sich an Kant geschult hatte, sah viel weiter, als er der „Philosophie“ für die Zukunft wenigstens die Lenkung des irdischen Geschehens einräumte, sie derweilen freilich noch von „Hunger und Liebe“ abhängig glaubte. Die Lenkung aber, wie Freud es tut, der Sexualität, oder was bei ihm dasselbe ist, der Libido, verallgemeinernd der Liebe zuzuschreiben, ist eine Vergewaltigung des logischen Denkens, selbst eine Fiktion schlechter Art, die, für ein Dogma genommen, zu grossen Widersprüchen und Begriffsverstümmelungen führen musste, weil sie mit der Wirklichkeit allzusehr kontrastierte.

Schwerer erscheint die Depossedierung des Primats des „Selbsterhaltungstriebs“, zumal dieses Prinzip von der einen Seite mit ergänzenden teleologischen Hilfskonstruktionen, von der anderen Seite mit der Wucht der Darwinschen Selektionslehre ausgestattet ist.

Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 37. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/45&oldid=- (Version vom 31.7.2018)