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Persönlichkeitsgefühl von dieser Seite aus bedroht werden könnte. Die Abschwächungen libidinöser Regungen bis zur psychischen Impotenz sind als bezweckte Aggressionshemmungen zu verstehen, als Störungen natürlicher Bereitschaften, als Konstruktionen eines „Als Ob“, dazu dienlich, sich vor einer Heirat, vor Ablenkungen, vor einer Degradierung dem Partner gegenüber, vor einem Versinken ins Elend oder in Straffälligkeit zu sichern. Verdrängte oder bewusste Perversionsneigungen sind stets als Abbiegungen zu verstehen, ebenso wie die Zwangsmasturbation, als Symbole eines fiktiven, sichernden Lebensplans. Sie werden durch die leitende Fiktion erzwungen, sobald das Gefühl der Minderwertigkeit in einer Furcht vor dem geschlechtlichen Partner, wie es bei den Anomalien der Sexualität regelmässig geschieht, zum Ausdruck kommt. Die Fiktion kann dann auch noch die Perversionsregung ins Unbewusste verlegen, oder die Furcht vor dem Partner unkenntlich machen, so dass sie nur aus der Situation ersichtlich wird. Sie tut das Erste, indem sie dem Stolz diese Leistung auferlegt, das Letztere dadurch, dass sie aus der Not eine Tugend macht und den Partner entwertet. Auch die Inzestregungen, denen Freud eine so überragende Bedeutung für die Entstehung der Neurose und Psychose zuschreibt, entpuppen sich in der Neurosenpsychologie als zweckdienliche Konstruktionen und Symbole, zu denen die Kindheitsgeschichte mit ihren Vorbereitungen das meist harmlose Material abgibt. Die Einsicht in den festgehaltenen „Ödipuskomplex“ beispielsweise ergibt, dass dieser eine bildliche, sexuell eingekleidete Darstellung männlichen Kraftbewusstseins, der Überlegenheit über die Frau gibt, gleichzeitig aber den Anlass verrät, der zu dieser Demonstration führt: als ob die Mutter die einzige Frau wäre, die man unterwerfen könne, auf die man rechnen könne, oder, als ob das sexuelle Begehren (schon in der Kindheit!) grenzenlos und also gefahrdrohend, immer auch im Kampf gegen Stärkere (Vater, Drache, Todesgefahr) durchzusetzen wäre. — Wie sich aus dieser Deutung entnehmen lässt, führt uns die Betrachtung der Sexualneurose immer wieder zum Befund einer leitenden Fiktion, die sich sexuell darstellt oder vom Therapeuten darstellen lässt, und im Zusammenhang damit zur Aufdeckung einer nach einem sexuellen Schema arbeitenden Apperzeptionsweise, der zufolge der Nervöse wie auch der „Normale“ oft versuchen, die Welt und ihre Erscheinungen in einem sexuellen Bild einzufangen und zu verstehen. Unsere weiteren Untersuchungen lassen erkennen, dass dieses sexuelle Schema, das sich auch in der Sprache, in Sitten und Gebräuchen vielfach durchsetzt, nur einen Formenwandel des weiterreichenden Schemas älterer Abkunft vorstellt, der gegensätzlichen Apperzeptionsweise von „Männlich-Weiblich“, von „Oben-Unten“.[1] — Auch die später psychisch verankerten Perversionsregungen nehmen ihr Material und ihre Richtung


  1. S. den Traum des Hippias, Herodot VI. 107: „er glaubte bei seiner Mutter zu schlafen.“ Dies träumte er, als er vorhatte, seine Mutterstadt zu erobern, wie er es schon einmal als Begleiter seines Vaters miterlebt hatte. Also der „Ödipuskomplex“ als Symbol des Herschenwollens. — Auch bei den Römern findet sich „Beischlaf“ als Symbol einer Eroberung, eines Sieges. Vgl. den Doppelsinn von „subigere“.
Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 35. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/43&oldid=- (Version vom 31.7.2018)