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und geschaffenen Bereitschaften, zu denen sich noch festgehaltene, oft erweiterte Kinderfehler und Krankheitssymptome erspähter oder selbstgeschaffener Art gesellen, stehen in innigem Verband, sind von einander unlösbar und zeigen auch dadurch ihre Abhängigkeit von einem ausserhalb ihres Gefüges stehenden Faktor, von der durch die Sicherungstendenz erschaffenen leitenden Fiktion, von der Sehnsucht nach Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls. In der fiktiven Grundlage derartiger Minderwertigkeitsgefühle, die immer aus Sicherungsgründen verstärkt gedacht oder empfunden werden, sehe ich die Hauptchance einer Heilungsmöglichkeit. Dabei spielt die Frage, ob das Gefühl der Minderwertigkeit bewusst oder unbewusst ist, eine untergeordnete Rolle. Zuweilen bringt es der Stolz soweit, „dass das Gedächtnis nachgibt“ (Nietzsche). Der geschilderte Zusammenhang freilich ist dem Patienten unbekannt. Und darum bleibt er bis zur Aufdeckung und Richtigstellung des Mechanismus, bis zur Zerstörung seiner Bereitschaften und seines neurotischen Lebensplanes ein Spielball seiner Empfindungen und Affekte, deren Zusammenspiel noch wesentlich kompliziert wird, weil sich regelmässig infolge der bezweckten Aufpeitschung des neurotischen Strebens jene Bereitschaften und Charakterzüge einmengen, die das Minderwertigkeitsgefühl verneinen, wie Stolz, Neid, Geiz, Grausamkeit, Mut, Rachsucht, Jähzorn und andere.

Die Unterstreichung und der Zwang zur markanten Darstellung der Minderwertigkeit spielt in der Psychologie der Nervösen eine grosse Rolle. Der Anschein der Schwäche, des Leidens, der Unfähigkeit und der Unbrauchbarkeit leitet sich vorwiegend aus solchen Darbietungen ab, weil der Nervöse durch diesen Zwangsmechanismus unweigerlich sich so benehmen, derart fühlen muss, als ob er krank, weiblich, minderwertig, zurückgesetzt, verkürzt, sexuell überreizt, impotent oder pervertiert wäre. Die Vorsicht im Leben, die diese Regungen stets begleitet, der verstärkte Drang nach oben, die Sucht, den Mann auf diese oder andere Weise zu spielen, allen Anderen überlegen zu sein, die Sicherheit des Neurotikers, durch solche Arrangements der Entscheidung und Herabsetzung auf der Hauptlinie auszuweichen und so eine Verminderung des Persönlichkeitsgefühls zu verhüten, lässt uns den richtigen Sachverhalt erkennen: die niedrige Selbsteinschätzung ist selbst nur ein Kunstgriff des Neurotikers, um mit verstärkten Kräften die Leitlinie zu gewinnen, die ihn zu einer Erhöhung seines Persönlichkeitsgefühls führt. Handelt er auch unter der Devise: halb und halb, indem er bestimmte Kampfpositionen aufgibt, so sichert er sich doch dadurch vor einem endgültigen Minderwertigkeitsgefühl und vermag Andere besser in seinen Dienst zu stellen.

Der sexuelle Einschlag in der Neurosenpsychologie, der von Freud zum Angelpunkt gemacht wurde, erklärt sich so als die Wirkung einer Fiktion. Es gibt kein objektives Mass der „Libido“. Erhöhung und Erniedrigung derselben richten sich stets nach dem fiktiven Endzwecke. Es gelingt jedem Neurotiker leicht, sich eine hohe Sexualspannung durch mehr minder zweckmässige Arrangements, vor allem durch Anspannung der entsprechenden Aufmerksamkeitsrichtung vorzutäuschen, wenn er nach Beweisen hascht, wie sehr die Sexualität seine Sicherheit beeinträchtigt, wie leicht sein

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Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 34. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/42&oldid=- (Version vom 31.7.2018)