eine Überkompensation erfahren, qualifizierte und künstlerische Leistungen entwickeln. Auch starke Selbständigkeitsregungen sind damit verbunden. Oder das Heil wird in verstärkter Anlehnung gesucht, zu welchem Zwecke Angst, Kleinheitsgefühl, Schwäche, Ungeschicklichkeit, Unfähigkeit, Schuldgefühl, Reue als Sicherungen fungieren. In gleiche Richtung zielt die Befestigung von Kinderfehlern, die Fixierung eines psychischen Infantilismus, soferne sie nicht ausschliesslich oder nebenbei aus der Trotzeinstellung hervorgehen, nicht dem kindlichen Negativismus entsprechen.
Eine Anzahl von Übeln der neuropathischen Kinder sind subjektiver Art, entsprechen einem ganzen oder halben Fehlurteil, wie es bei den Versuchen der Kinder, ihr Minderwertigkeitsgefühl zu begründen oder zu verstehen, zustande kommt. Oft mischt sich bereits in diese logischen Interpretationen der kompensierende Ehrgeiz oder die Aggression des Kindes gegen die Eltern ein. „Die Eltern, das Schicksal sind schuld“, „weil ich der Jüngste, zu spät gekommen bin“, „weil ich ein Aschenbrödel bin“, „weil ich vielleicht nicht das Kind dieser Eltern, dieses Vaters, dieser Mutter bin“, „weil ich zu klein bin, zu schwach, einen kleinen Kopf habe, zu hässlich bin“, „weil ich einen Sprachfehler, einen Fehler des Gehörs habe, schiele, kurzsichtig bin“, „weil ich verbildete Genitalien, verkürzte Genitalien habe“, „weil ich nicht männlich, weil ich ein Mädchen bin“, „weil ich von Natur aus böse, dumm, ungeschickt bin“, „weil ich masturbiert habe, zu sinnlich, zu begehrlich bin“, „weil ich pervers von Natur aus bin“, „weil ich mich leicht unterwerfe, unselbständig bin und gehorche“, „weil ich leicht weine und gerührt bin“, „weil ich ein Verbrecher, Dieb, Brandstifter bin, jemanden ermorden könnte“, „meine Abstammung, meine Erziehung, die Beschneidung ist schuld“, „weil ich eine lange Nase habe, zu viel, zu wenig behaart bin“, „weil ich ein Krüppel bin“, so und ähnlich lauten die Versuche des Kindes, sich durch den Hinweis auf das Fatum, — ganz wie in der griechischen und in der Schicksalstragödie — zu entlasten, sein Selbstgefühl zu retten und die Schuld Anderen zuzuschieben. Man begegnet diesen Versuchen in der psychischen Behandlung der Neurose regelmässig, und kann sie immer auf die Relation von Minderwertigkeitsgefühl und dem Ideal zurückführen. Der Wert und die Bedeutung dieser aufgedeckten Gedankengänge, die wie ein Stachel in der Seele des Nervösen sitzen, liegt zudem noch im Gebrauch derselben 1. zur Aufpeitschung des neurotischen Strebens in der Richtung auf das Ideal (Typus: Grössenideen), 2. als Zuflucht und Vorwand, wenn eine Entscheidung mit Herabsetzung des Persönlichkeitsgefühles droht (Typus: Kleinheitsideen). Diese zweite Verwendbarkeit und Verwendung tritt bei der Neurose naturgemäss in den Vordergrund, weil das neurotische Ziel zu hoch gesteckt ist, um auf gerader Linie angestrebt zu werden. Die Möglichkeit einer Verwendung liegt aber in der Beimischung von Aggression, in der Anschuldigung des Schicksals sowie der Heredität. Dadurch gewinnt der Nervöse eine dauerhafte Operationsbasis, auf der er in der gleichen feindseligen Absicht gewisse Charakterzüge wie Trotz, Herrschsucht, nörgelndes Wesen, pedantische Wünsche entfaltet, vorschiebt und stabilisiert, weil ihm dadurch stets die Beherrschung der Umgebung, meist unter Berufung auf sein schweres Leiden, ermöglicht wird. Alle diese Ressentiments
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 33. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/41&oldid=- (Version vom 31.7.2018)