System in ein subjektiv arbeitendes, durch die Fiktion der zukünftigen Persönlichkeit modifiziertes Schema. Seine Aufgabe wird es, derartige Verbindungen mit der Aussenwelt herzustellen, die der Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls dienen, den vorbereitenden Handlungen und Gedanken Direktiven, Winke zu geben und sie mit dem ehernen Bestand fertiggestellter Bereitschaften in Verbindung zu bringen. Man erinnere sich nur an das treffliche Wort Charcots, der für das wissenschaftliche Forschen hervorgehoben hat, dass man immer nur findet, was man weiss, — eine Beobachtung, die auf das praktische Erleben gerichtet zu zeigen imstande ist, dass von einer Anzahl fertiger psychischer Mechanismen und Bereitschaften aus, wie es auch Kants Lehre von den Anschauungsformen unseres Verstandes zeigt, unser ganzer Wahrnehmungskreis beschränkt wird.[1] Ebenso sind unsere Handlungen durch diesen — von der leitenden Fiktion aus bestimmten und gewerteten — Erfahrungsinhalt determiniert. Unsere Werturteile selbst entsprechen dem Masse des fiktiven Zieles, nicht etwa „realen“ Empfindungen oder Lustgefühlen. Und die Handlung erfolgt, wie James es ausdrückt, unter einer Art Approbierung, — ist an ein Fiat!, an ein Geheiss oder an eine Zustimmung gebunden.
Die leitende Fiktion ist demnach ursprünglich das Mittel, ein Kunstgriff, durch den sich das Kind seines Minderwertigkeitsgefühls zu entledigen sucht. Sie leitet die Kompensation ein und steht im Dienste der Sicherungstendenz. Je grösser das Minderwertigkeitsgefühl, um so dringender und stärker wird das Bedürfnis nach einer sichernden Richtungslinie, um so schärfer tritt sie auch hervor, und wie die Kompensation im Organischen ist die Wirksamkeit der psychischen Kompensation an die Leistung einer Mehrarbeit geknüpft und bringt auffallende, oft mehrwertige und neuartige Erscheinungen im Seelenleben mit sich. Eine ihrer Ausdrucksformen, zur Sicherung des Persönlichkeitsgefühls bestimmt, ist die Neurose und Psychose.
Das konstitutionell minderwertige Kind mit seinem Heer von Übeln und Unsicherheiten wird seinen fixen Punkt schärfer herausarbeiten und höher ansetzen, wird die Leitlinie deutlicher ziehen und wird sich ängstlicher oder prinzipieller an sie halten. In der Tat ist der Haupteindruck bei Beobachtung eines neurotisch disponierten Kindes der, dass es um vieles vorsichtiger zu Werke geht, mit allerlei Vorurteilen, dass ihm die Unbefangenheit der Wirklichkeit gegenüber mangelt, ferner dass seine Aggressionsstellung eine aufgepeitschte ist, indem es entweder erobernd oder durch Unterwerfung zur Beherrschung einer Situation gelangen will. Meist lässt es sich in der Wahl seiner Kampfmittel durch seine Organminderwertigkeiten leiten und nützt sie den Angehörigen gegenüber aus oder fixiert sie im Trotz. Oft entlehnt es in anfänglicher Simulation oder übertreibend Übel aus der Umgebung, um seine Stellung zu befestigen. Wo die Wirkung derartiger Mittel auf die Umgebung fehlt, wird die Beseitigung des Übels durch erhöhten Kraftaufwand versucht, wobei sich häufig, wenn funktionelle Anomalien des Auges, des Ohres, der Sprache, der Muskulatur
- ↑ Auf Bergson's fundamentale Lehren muss ich hier verweisen, ohne seine bedeutsamen Gesichtspunkte genügend einreihen zu können.
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 32. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/40&oldid=- (Version vom 31.7.2018)