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mit dem männlichen Protest identifiziert werden, da dieser eine Urform psychischen Geltungsdranges darstellt, nach welchem alle Erfahrungen, Wahrnehmungen und Willensrichtungen gruppiert werden. Die Apperzeption wird nach diesem sinnfälligsten Schema geleitet, der Endzweck, zumal beim Neurotiker, ist die Ausgestaltung des männlichen Protestes gegen weibliche Selbsteinschätzung, und so richten sich auch die Aufmerksamkeit, die Vorsicht, der Zweifel, ebenso aber alle Charakterzüge und sonstigen psychischen und körperlichen Bereitschaften, in höchstem Masse vor allem die Wertung alles Erlebens nach diesem männlichen Endzweck, so dass alle diese Erscheinungen in sich eine Dynamik tragen und dem Kenner verraten, die von unten nach oben, vom Weiblichen zum Männlichen drängt. Die Auslösung aller dieser Kraftlinien, die Fixierung des fernabliegenden Endzweckes, die Hervorhebung und gelegentliche Protektion minderwertiger, weiblicher Züge zwecks besserer Bekämpfung derselben durch den männlichen Protest geschieht durch den gleichen Faktor, der auch die organischen Kompensationen schafft, durch den Zwang zum Ausgleich, durch stetige Versuche, eine schädigende Minderleistung durch Mehrarbeit zu ersetzen, was im Psychischen in der Sicherungstendenz zum Ausdruck kommt, die den Willen zur Macht, zur Männlichkeit, zur Leitlinie macht, um dem Gefühl der Unsicherheit zu entgehen.

Die grösste Schwierigkeit für das Verständnis der Neurose bietet die auffällige Protektion minderwertiger, weiblicher Züge und deren Anerkennung durch den Patienten. Hierher gehört das Hervortreten von Krankheitserscheinungen überhaupt, aber auch passiver, masochistischer Züge, weiblicher Charaktere, passive Homosexualität, Impotenz, Suggestibilität, Zugänglichkeit und Neigung für Hypnose oder endlich das scheinbare Aufgehen in weibliches Wesen und Gebaren. Der Endzweck bleibt immer die Beherrschung Anderer, die als männlicher Triumph empfunden und gewertet wird. Niemals auch fehlen in der Charakterologie dieser Patienten die oben geschilderten kompensierenden Züge, wie man sie bei Menschen zu erwarten hat, die das Gefühl der Verkürztheit zur Operationsbasis nehmen, und nun auf jede Weise den Ersatz, das zu einem übertriebenen Persönlichkeitsgefühl Fehlende hereinzubringen trachten. Und auch in dieser psychischen Situation gewinnt das Sexuelle als Symbol an Raum, indem solche Patienten häufig nach einem Schema apperzipieren, als ob ihr Genitale verweiblicht, verkürzt, kastriert wäre, und sie deshalb fortwährend gezwungen wären, einen Ersatz zu suchen. Eine Form dieses Ersatzes finden sie in der Herabsetzung, Verweiblichung aller anderen Personen. Aus dieser Entwertungstendenz stammen namhafte Verstärkungen gewisser Charakterzüge, die weitere Bereitschaften vorstellen und bestimmt sind, Andere zu beeinträchtigen, wie Sadismus, Hass, Rechthaberei, Unduldsamkeit, Neid etc. Auch die aktive Homosexualität, sowie Perversionen, die den Partner herabsetzen, auch Lustmord gehen aus der Entwertungstendenz des Neurotikers hervor, die man sich nicht stark genug vorstellen kann. Sie alle stellen Fleisch gewordene Symbolik des Unterwerfens nach dem Schema: sexuelle Überlegenheit des Mannes - vor. Kurz, der Neurotiker kann sein Persönlichkeitsgefühl auch dadurch erhöhen, dass er den Anderen herabsetzt.

Wir haben oben von der Protektion weiblicher Züge zwecks besserer Bekämpfung, behufs besserer Selbstüberwachung in der Neurose gesprechen.

Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 26. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/34&oldid=- (Version vom 31.7.2018)