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und immer wieder rechtfertigen sollen. In der Regel resultiert immer wieder die Anschauung: ich muss vorsichtig sein, wenn ich mein Ziel erreichen will! Und es ist gar nicht so selten, dass der Patient dreiste Unvorsichtigkeiten begeht, um sich im Hauptpunkt seines Männlichkeitsideals durch warnendes Hervorheben seiner Unvorsichtigkeit zu sichern. Sehr häufig übernehmen Halluzinationen und Träume bei Neurotikern und Psychotikern die Funktion dieser warnenden Stimme, malen aus, wie es schon einmal war, wie es bei Anderen war, oder wie es kommen könnte, um den Patienten bei der sichernden Leitlinie zu halten.

Sonst finden sich, „um die Pyramide des Daseins so hoch als möglich in die Luft zu spitzen“, stark unterstrichene Züge von Kampflust, Trotz und Aktivität, vielfach gesichert oder verschärft durch Pedanterie, letztere, um in der Richtung zu bleiben. Dass die Wissbegierde, als mächtige Förderin zu hohen Zielen, sich ungeheuer anspannt, ist gewiss nicht wunderlich. Ebenso deutlich zeigt sich die Ungeduld, die Furcht, zu spät zu kommen, die Furcht, nichts zu erreichen, als besonders heftiger Antrieb, einen Vorteil nicht aus den Augen zu lassen, lieber zu viel als zu wenig für die Erreichung des fiktiven Endzweckes zu tun. Immerhin liegen diese Züge schon ganz im Gebiet der entwickelten Neurose, wo die Sicherungstendenz immer mehr in den Vordergrund tritt und zu den gefährlichen Kunstgriffen treibt: die Gefühle der Minderwertigkeit zu vertiefen, so zu handeln, als ob man verkürzt, vom Erfolg abgeschnitten, ohne Hoffnungen sei, oder mehr weniger in Passivität zu tauchen, weibliche Züge emporzutreiben, sich masochistisch und pervers zu geberden, zuletzt seinen Wirkungskreis stark einzuschränken, um diesen durch die Krankheitssymptome desto gewaltiger zu erschüttern und zu beherrschen. In ähnlicher Weise kommt das Arrangement von Indolenz, Faulheit, Müdigkeit, Impotenz jeder Art zustande, die den Vorwand abgeben, vor Entscheidungen zu fliehen, die den Stolz des Nervösen kränken könnten, sich dem Studium, dem Beruf, einer Ehe zu entziehen. Zuweilen endet diese Entwickelungsphase mit Selbstmord, der dann immer als gelungene Rache an dem Schicksal, an den Angehörigen, empfunden wird.

Auch Schuldgefühle gewinnen an Raum. Damit stehen wir an einem der schwierigsten Punkte der Analysen von Neurosen und Psychosen. Schuldgefühl und Gewissen sind fiktive Leitlinien der Vorsicht, ähnlich wie Religiosität, und dienen der Sicherungstendenz.[1] Sie haben die Aufgabe, ein Sinken des Persönlichkeitsgefühls zu verhüten, wenn die gereizte Aggression ungestüm zu selbstsüchtigen Taten drängt. Im Schuldgefühl ist der Blick nach rückwärts gewendet, das Gewissen wirkt durch Voraussicht. Auch die Wahrheitsliebe wird durch die Sicherungstendenz getragen, liegt eigentlich im Rahmen unseres Persönlichkeitsideals, während die neurotische Lüge einen schwächlichen Versuch darstellt, den Schein zu wahren und also kompensierend zu wirken.

Alle diese Versuche des Höherstrebens, des Willens zur Macht müssen naturgemäss als eine Form des männlichen Strebens aufgefasst,


  1. Siehe Furtmüller, Psychoanalyse und Ethik, München, E. Reinhardt 1912.
Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 25. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/33&oldid=- (Version vom 31.7.2018)