verstrickt, den Neurotiker, der nicht zur Wirklichkeit zurückfindet und an seine Fiktion glaubt, den Gesunden, der es benützt, um ein reales Ziel zu erreichen. Was aber zur Benützung des Schemas den brennenden Anlass gibt, ist stets die Unsicherheit in der Kindheit, die grosse Distanz von der Machtentfaltung des Mannes, von seinem Vorrang und Privileg, von dem das Kind Ahnungen und Gewissheiten besitzt. Und in diesem Punkte möchte ich mir gestatten, die Ausführungen des gelehrten Autors zu ergänzen: was uns alle, was vor allem das Kind und den Neurotiker zwingt, die näherliegenden Wege der Induktion und Deduktion zu verlassen, sich solcher Kunstgriffe zu bedienen wie der schematischen Fiktion, stammt aus dem Gefühl der Unsicherheit, ist die Tendenz der Sicherung, die letzter Linie darauf hinzielt, des Gefühls der Minderwertigkeit ledig zu werden, um sich zur vollen Höhe des Persönlichkeitsgefühls, zur ganzen Männlichkeit, zum Ideal des Obenseins aufzuschwingen. Je grösser diese Distanz ist, um so schärfer tritt die leitende Fiktion zutage, so dass das Gefühl des Untenseins in gleicher Weise ausschlaggebend sein kann wie etwa das überlebensgross gefasste Bild eines starken Vaters, einer starken Mutter.
Wir sehen so Anspannungen zutage treten, die weit über das Mass dessen hinausgehen, was bei den angestrengtesten körperlichen Leistungen der Triebe, bei der stärksten Sehnsucht nach Befriedigung organischer Lust zu erwarten wäre. Unter anderen weist auch Goethe darauf hin, dass wohl die Wahrnehmung an praktische Bedürfnisbefriedigungen anknüpfe, dass der Mensch aber darüber hinaus ein Leben in Gefühl und Einbildungskraft führe. Damit ist der Zwang zur Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls trefflich erfasst, wie auch aus einem seiner Briefe an Lavater hervorgeht, wo Goethe bemerkt: „Diese Begierde, die Pyramide meines Daseins, deren Basis mir angegeben und gegründet ist, so hoch als möglich in die Luft zu spitzen, überwiegt alles andere und lässt kaum augenblickliches Vergessen zu“.
Es lässt sich leicht verstehen, dass eine derart angespannte psychische Situation, — und jeder Künstler, jedes Genie kämpft den gleichen Kampf gegen sein Gefühl der Unsicherheit, nur mit kulturell wertvollen Mitteln, — geeignet ist, eine ganze Anzahl von Charakterzügen zu verstärken und hervorzutreiben, welche die Neurose konstituieren helfen. So vor allem den Ehrgeiz. Er ist wohl die stärkste von den sekundären Leitlinien, die zum tiktiven Endzweck hinstreben. Und er erzeugt eine Summe von psychischen Bereitschaften, die dem Nervösen den Vorrang in allen Lebenslagen sichern sollen, die aber seine Aggression, seine Affektivität stets als gereizt erscheinen lassen. So präsentiert sich der Nervöse meist als stolz, als rechthaberisch, neidisch und geizig, will überall Eindruck machen, immer der Erste sein, zittert aber stets für den Erfolg und schiebt gerne die Entscheidung hinaus. Daher das Zögernde, das Vorsichtige im Auftreten des Neurotikers, sein Misstrauen, Schwanken und seine Zweifel. Wie zu einer Art Übung, im Sinne einer Vorbereitung produziert er diese psychischen Bereitschaften im Kleinen, um Anhaltspunkte und weitere sichernde Richtlinien für grosse Ziele zu gewinnen, die ihn im Banne halten. Dies ist auch der Sinn des Freudschen Verschiebungsmechanismus, dass der Kranke durch seine Sicherungstendenz gezwungen ist, probeweise, in corpore vili Beweise zu sammeln, die seine psychische Gesamthaltung rechtfertigen
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 24. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/32&oldid=- (Version vom 31.7.2018)