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II. Kapitel.
Die psychische Kompensation und ihre Vorbereitung.

Unsere Betrachtung hat uns dahin geführt, zu verstehen, wie sich aus der absoluten Minderwertigkeit des Kindes, insbesondere des konstitutionell belasteten, eine Selbsteinschätzung entwickelt, die das Gefühl der Minderwertigkeit hervorruft. Analog dem δὸς ποῦ στῶ sucht das Kind einen Standpunkt zu gewinnen, um die Distanzen zu den Problemen des Lebens abschätzen zu können. Von diesem Standpunkte aus, der als ruhender Pol in der Erscheinungen Flucht angenommen wird, spannt die kindliche Psyche Gedankenfäden zu den Zielen seiner Sehnsucht. Auch diese werden von der abstrakten Anschauungsform des menschlichen Verstandes als feste Punkte erfasst und sinnlich interpretiert. Das Ziel: gross zu sein, stark zu sein, ein Mann, oben zu sein, wird in der Person des Vaters, der Mutter, des Lehrers, des Kutschers, des Lokomotivführers etc. symbolisiert, und das Gebaren, die Haltung, identifizierende Gesten, das Spiel der Kinder und ihre Wünsche, Tagträume und Lieblingsmärchen, Gedanken über ihre künftige Berufswahl zeigen uns an, dass die Kompensationstendenz am Werke ist und Vorbereitungen für die zukünftige Rolle trifft. Das eigene Gefühl der Minderwertigkeit und Untauglichkeit, die Empfindung der Schwäche, der Kleinheit, der Unsicherheit wird so zur geeigneten Operationsbasis, die aus den anhaftenden Gefühlen der Unlust und Unbefriedigung die inneren Antriebe hergibt, einem fiktiven Endziel näher zu kommen. Das Schema, dessen sich das Kind bedient, um handeln zu können und sich zurecht zu finden, ist allgemein und entspricht dem Drängen des menschlichen Verstandes, durch unreale Annahmen, Fiktionen, das Chaotische, Fliessende, nie zu Erfassende in feste Formen zu bannen, um es zu berechnen. So handeln wir auch, wenn wir durch Meridiane und Parallelkreise die Erdkugel zerlegen; denn nur so erhalten wir feste Punkte, die wir in Relation setzen können. Bei allen ähnlichen Versuchen, von denen die menschliche Psyche voll ist, handelt es sich um die Eintragung eines unwirklichen abstrakten Schemas in das wirkliche Leben, und ich betrachte als die Hauptaufgabe dieser Schrift, diese Erkenntnis, die ich aus der psychologischen Betrachtung der Neurose und Psychose gewonnen habe, und die sich nach den Nachweisen Vaihingers in allen wissenschaftlichen Anschauungen wiederfindet, zu fördern. An welchem Punkte immer man die psychische Entwickelung eines Gesunden oder Nervösen untersucht, findet man ihn stets in den Maschen seines Schemas

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Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 23. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/31&oldid=- (Version vom 31.7.2018)