versprechenden Unternehmungen zurückschreckt, wie meist auch vor Verbrechen und unmoralischen Handlungen, so deshalb, weil er für sein Persönlichkeitsgefühl fürchtet. Aus demselben Grunde scheut er oft vor der Lüge zurück, kann aber, um sicher zu gehen, und sich vor Abwegen zu hüten, in sich das Bedenken nähren, dass er grosser Laster und Verbrechen fähig wäre. — Dass diese starre Verfolgung der Fiktion eine soziale Schädigung bedeutet, liegt auf der Hand.
Der Egoismus nervöser Menschen, ihr Neid, ihr Geiz, oft ihnen unbewusst, ihre Tendenz, Menschen und Dinge zu entwerten, stammen aus ihrem Gefühl der Unsicherheit, und sind bestimmt, sie zu sichern, zu lenken, anzuspornen. — Da sie in Phantasien eingesponnen sind und in der Zukunft leben, ist auch ihre Zerstreutheit nicht verwunderlich. — Der Stimmungswechsel ist abhängig vom Spiel ihrer Phantasie, die bald peinliche Erinnerungen berührt, bald sich aufschwingt zur Erwartung des Triumphes, analog dem Schwanken und Zweifeln des Neurotikers. In gleicher Weise erscheinen spezielle Charakterzüge, die alle der menschlichen Psyche nicht fremd sind, durch den hypnotisierenden Endzweck gerichtet und tendenziös verstärkt. — Sexuelle Frühreife und Verliebtheit sind Ausdrucksformen für die gesteigerte Tendenz, erobern zu wollen, Masturbation, Impotenz und perverse Regungen liegen auf der Richtungslinie der Furcht vor dem Partner, der Furcht vor Entscheidung, wobei der Sadismus einen Versuch darstellt, den „wilden Mann“ zu spielen, um ein Minderwertigkeitsgefühl zu übertäuben.
Wir haben bisher als leitende Kraft und Endzweck der aus konstitutioneller Minderwertigkeit erwachsenen Neurose die Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls betrachtet, die sich immer mit besonderer Macht durchzusetzen sucht. Dabei ist uns nicht entgangen, dass dies bloss die Ausdrucksform eines Strebens und Begehrens ist, deren Anfänge tief in der menschlichen Natur begründet sind. Die Ausdrucksform selbst und die Vertiefung dieses Leitgedankens, den man auch als Wille zur Macht (Nietzsche) bezeichnen könnte, belehrt uns, dass sich eine besondere Kraft kompensatorisch im Spiel befindet, die der inneren Unsicherheit ein Ende machen will. Durch die starre Formulierung, die meist an die Oberfläche des Bewusstseins dringt, sucht der Neurotiker den festen Punkt zu gewinnen, um die Welt aus den Angeln zu heben. Es macht keinen grossen Unterschied aus, ob viel oder wenig von dieser treibenden Kraft dem Neurotiker bewusst ist. Den Mechanismus kennt er nie, und ebensowenig vermag er es allein, sein analogisches Verhalten und Apperzipieren aufzuklären und zu zerbrechen. Dies gelingt nur einem analytischen Verfahren, welches uns durch die Mittel der Abstraktion, Reduktion und Simplifikation die kindliche Analogie erraten und verstehen lässt. Dabei stellt sich nun regelmässig heraus, dass der Neurotiker stets nach der Analogie eines Gegensatzes apperzipiert, ja dass er zumeist nur gegensätzliche Beziehungen kennt und gelten lässt. Diese primitive Orientierung in der Welt, den antithetischen Aufstellungen Aristoteles', sowie den pythagoräischen Gegensatztafeln entsprechend, stammt gleichfalls aus dem Gefühle der Unsicherheit und stellt einen simplen Kunstgriff der Logik vor. Was ich als polare, hermaphroditische Gegensätze, Lombroso als bipolare, Bleuler als Ambivalenz beschrieben haben, führt auf diese nach dem
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 18. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/26&oldid=- (Version vom 31.7.2018)