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Introspektion, Einfühlung, Aufmerksamkeit, Überempfindlichkeit, kurz alle sichernden psychischen Kräfte in verstärktem Masse entfalten. Zu diesen Sicherungen gehören auch die Fixierung und Verstärkung der Charakterzüge, die im Chaos des Lebens brauchbare Leitlinien bilden und so die Unsicherheit verringern.

Der nervöse Mensch kommt aus dieser Sphäre der Unsicherheit und stand in der Kindheit unter dem Drucke seiner konstitutionellen Minderwertigkeit. In den meisten Fällen gelingt dieser Nachweis leicht. In anderen Fällen benimmt sich der Patient so, als ob er minderwertig wäre. Immer aber baut sich sein Wollen und Denken über der Grundlage eines Gefühls der Minderwertigkeit auf. Dieses Gefühl ist stets als relativ zu verstehen, ist aus den Beziehungen zu seiner Umgebung erwachsen oder zu seinen Zielen. Stets ist ein Messen, ein Vergleichen mit anderen vorausgegangen, erst mit dem Vater, dem Stärksten in der Familie, zuweilen mit der Mutter, mit den Geschwistern, später mit jeder Person, die dem Patienten entgegentritt.

Bei näherer Einsicht erkennt man, dass jedes Kind, inbesondere aber das von Natur aus bedrängtere, eine scharfe Selbsteinschätzung vorgenommen hat. Das konstitutionell minderwertige Kind, dem wir als gleichgestellt und zur Neurose gleichermassen disponiert, das hässliche, das zu streng erzogene, das verhätschelte Kind an die Seite stellen können, sucht eifriger als ein gesundes Kind den vielen Übeln seiner Tage zu entkommen. Und bald sehnt es sich, auf eine ferne Zukunft hinaus das ihm vorschwebende Schicksal zu bannen. Dazu braucht es ein Hilfsmittel, um im Schwanken der Tage, in der Unorientiertheit seines Seins ein festes Bild vor Augen zu haben. Es greift zu einer Hilfskonstruktion. In seiner Selbsteinschätzung zieht es die Summe aller Übel, stellt sich selbst als unfähig, minderwertig, herabgesetzt, unsicher in Rechnung. Und um eine Leitlinie zu finden, nimmt es als zweiten fixen Punkt Vater oder Mutter, die sie nun mit allen Kräften dieser Welt ausstattet. Und indem es für sein Denken und Handeln diese Leitlinie normiert, sich aus seiner Unsicherheit zu dem Range des allmächtigen Vaters zu erheben, diesen zu übertreffen sucht, hat es sich bereits vom realen Boden mit einem grossen Schritt entfernt und hängt in den Maschen der Fiktion. —

Solche Beobachtungen lassen sich auch bei normalen Kindern in abgeschwächter Form erheben. Auch sie wollen gross sein, stark sein, herrschen, „wie der Vater“, und werden durch diesen Endzweck geleitet. Ihr Gebaren, ihre körperliche und geistige Haltung sind alle Augenblicke auf diesen Endzweck gerichtet, so dass man bereits eine imitiererde Mimik, eine identische psychische Geste wahrnehmen kann. Das Beispiel wird der Wegweiser zum „männlichen“ Ziele, solange nicht die „Männlichkeit“ in Frage gestellt ist. Wird bei Mädchen das männliche Ziel denkunfähig, dann tritt ein Formenwandel der männlichen Leitlinie ein, es wird z. B. nur Macht, Wissen, Herrschaft angestrebt.

Auf eine spezielle psychische Leistung des Kindes muss noch hingewiesen werden, die sich vorher und während der Aufstellung der männlichen Leitlinie geltend macht. Man kann diese Erscheinung kaum besser erfassen, als mit der Annahme, dass die notwendigen Verweigerungen der Organtriebbefriedigungen das Kind schon von der ersten Stunde seines extrauterinen Lebens an in eine feindliche, kämpferische

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Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 14. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/22&oldid=- (Version vom 31.7.2018)