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Sinn, wenn wir in den beiden Traumbildern ein zeitliches Intervall gelten lassen, etwa: zuerst muss ich der Freundin überlegen sein, dann will ich mit ihr spielen.

Die Bestätigung unserer Auffassung liefert die Vorgeschichte des Anfalles, der dem Traume vorausging. Die Spiele der beiden Mädchen waren in der Regel „Vater und Mutter spielen“ oder „Doktor spielen“. Bei ersterem Spiel war es zwischen den beiden Mädchen zu einem Streit gekommen, wer den „Vater“ spielen sollte, bis der Vater schlichtend eingriff und unserer Patientin tadelnd vorhielt, dass die Freundin immer die nachgiebigere, sie selbst immer unnachgiebig sei, was auch der Wahrheit entsprach. Die Freundin bekam hierauf die „Vaterrolle.“ Als sich die Familie kurz nachher zum Abendbrot an den Tisch begab, stellte sich der Anfall bei dem Kinde ein. Sie ass nichts und wurde zu Bett gebracht, und zwar ins Schlafzimmer der Eltern, wo sonst ihre andere Rivalin schlief, die kleine Schwester. Der Traum setzt nun in der im Anfall gegebenen Tendenz fort, die Patientin reisst die männliche Rolle an sich und gibt uns damit den Wink, wie sie ihre Geltungssucht und die Männlichkeit gleichstellt. Die Darstellung des Weiblichen als der Unterliegenden in dem Worte „unten“ verstärkt diese Auffassung ganz besonders, nicht ohne dass die Vermutung auftaucht, dass die Patientin die räumliche Position im Geschlechtsverkehr kennt. Sie schlief bis zur Ankunft ihrer jüngeren Schwester im Schlafzimmer der Eltern, und auch späterhin, wenn irgend ein Unwohlsein bei ihr eintrat. Diese der Mutter gegenüber angedeutete Vermutung blieb unwidersprochen, hatte aber sein Gutes, insoferne die beiden Kinder dauernd das Schlafzimmer räumen mussten. — Die Charaktereigenschaften des Kindes aber sehen wir auch hier wieder in der Richtung des männlichen Protestes wirksam, als weit vorgeschobene Vorposten, die jede Analogie, jedes symbolische Erleiden eines weiblichen Schicksals, Herabsetzung, Verminderung des Persönlichkeitsgefühls von ferne schon abzuwehren hatten und sichernd vor kommendem Unheil wirken sollten.

Eine ähnliche Affektion ist das den Ärzten wohlbekannte Schulerbrechen und Erbrechen bei Tisch oder kurz nach dem Essen, das in seinem psychischen Aufbau der obigen Erkrankung gleicht, indem es einen unbewussten oder unbewusst gewordenen Kunstgriff darstellt, wie man einer drohenden Herabsetzung entgeht und sich Geltung verschafft.

Ein 13jähriger Junge zeichnet sich durch eine auffällige Indolenz seit 3 Jahren aus, die ihn trotz seiner unbestreitbaren Intelligenz am Fortkommen in der Schule hindert. Seit einigen Monaten zeigt sich bei ihm ein weinerliches Wesen, das besonders zutage tritt, wenn man ihn aus irgendwelchen Gründen ermahnt. Vater und Mutter sind wohl seit jeher etwas zu scharf mit ihm ins Gericht gegangen, aber soweit ich Erkundigungen einziehen konnte, galten ihre Ermahnungen zumeist seiner Langsamkeit beim Essen und Ankleiden, und insbesondere seinem allzueifrigen Bücherlesen. In der letzten Zeit war es soweit gekommen, dass der Knabe jedesmal zu weinen begann, wenn man ihn an irgend etwas erinnerte, oder sobald man ihn drängte. Die Folge dieses Zustandes war wohl eine vorsichtigere Haltung der Eltern, doch glaubten sie bei der Lässigkeit des Knaben sich nicht aller Ermahnungen entschlagen zu können.

Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 187. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/195&oldid=- (Version vom 31.7.2018)