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Die bildlich-abstrakte Darstellung der Inferiorität der Frau greift gerne in Träumen und Phantasien, im Witz und in der Wissenschaft zum Ausdrucksmittel verloren gegangener Glieder oder vermehrter Höhlungen. Einer meiner Patienten, der an Vertigo litt, träumte, als ihm einst seine Frau eine heftige Szene machte, folgenden Traum, der die Herabsetzung der ihm überlegenen Frau summarisch und prinzipiell bewerkstelligt:

„Es tauchte das Bild eines Birkenstammes auf. An einer Stelle befand sich ein Astauge mit rundlicher Verschwellung. Es war dort ein Ast abgefallen, und ich hatte die Empfindung, als ob das ein weibliches Genitale wäre“.

Ähnliche Träume haben ich und Andere schon berichtet. Mir ergab sich als der Sinn solcher Träume die bildlich zu verstehende Frage nach dem Geschlechtsunterschied, die in kindlicher Weise dahin beantwortet wird, das Mädchen ist ein Knabe, dem das männliche Genitale genommen wurde. Der obige Traum fügt sich in die psychische Situation des Träumers ein, indem er den Sinn ergibt, ich bin ein Mann, dem die Männlichkeit abhanden kam, der schwach und krank ist, der in Gefahr ist, nach unten zu kommen, zu fallen. Jetzt hat er die Operationsbasis, er sieht sich verkürzt und holt Atem, um wieder das Übergewicht zu bekommen. Nun setzen im wachen Zustande als männlicher Protest Herrschsucht, Zornausbrüche und Akte der Untreue ein.

Ich will dabei erwähnen, dass man von Nervösen sehr oft hört, dass sich in Momenten persönlicher Gefahr, oder wenn ihnen eine Niederlage droht, eine Verkürzung und Zusammenziehung des Genitales bemerkbar macht, zuweilen auch ein schmerzliches Gefühl, das mit ungeheuerer Kraft auf eine Beendigung dieser Situation drängt.[1] Am häufigsten findet sich diese Erscheinung bei der Höhenangst, bei der Furcht zu fallen. Die Verkürzung des Genitales im Bade ruft bei Nervösen fast regelmässig eine Reaktion in der Richtung einer Verstimmung, zuweilen mit Kopfdruck nach sich.

Dass die Homosexualität als Neigung und als Handlung der Furcht vor dem gegengeschlechtlichen Partner entspringt, wurde bereits hervorgehoben. Dazu soll noch kurz erwähnt werden, wie die Wertschätzung des gleichgeschlechtlichen Partners den invertierten Nervösen im Werte mitsteigen lässt. In der Neurose findet man die Homosexualität, auch wenn sie ausgeübt wird, immer nur als Symbol, durch welches die eigene Überlegenheit ausser Frage gestellt werden soll. Dieser Mechanismus ist dem des religiösen Wahnes ähnlich, bei dem auch die Gottnähe eine Erhebung bedeutet.

Eine der Formen, in die sich die Furcht vor der Frau besonders gerne verkleidet, stellt die Syphilidophobie dar. Der Gedankengang solcher Phobiker (Adler, Syphilidophobie, l. c.) ist gewöhnlich folgender: sie fürchten aus irgendwelchen Minderwertigkeitsgefühlen, für die sie allerlei Gründe parat haben, zuweilen auch ohne bewusste Motivierung, dass sie der Frau gegenüber keine herrschende


  1. Zuweilen reicht dieses „Druckgefühl“ bis zum Abdomen, in die Brust- und Herzgegend oder tritt ausschliesslich an diesen Stellen auf. Zuweilen folgen Pollutionen als reaktives Symbol des männlichen Endzweckes.
Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 178. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/186&oldid=- (Version vom 31.7.2018)