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In diesem Stadium verschwindet die Schlaflosigkeit. Sie teilt mir diese immerhin auffällige Besserung mit der herabsetzenden Bemerkung mit, jetzt möchte sie Tag und Nacht schlafen. Wer mit mir die gereizte Aggression der Patienten in der psychotherapeutischen Kur, die sich gegen den überlegenen, also männlichen Arzt kehrt, kennen gelernt und so seine Sinne für die Ausdrucksweise des Neurotikers geschärft hat, wird die Äusserung der Patientin nicht missverstehen. Diese Äusserung zeigt deutlich, dass sie den Erfolg der Kur erkannt hat, dass sie aber mit leichter Retouche bemüht ist, diesen Erfolg und damit mich zu entwerten. Sie macht mich unter der Blume aufmerksam, dass bloss ein Übel durch ein anderes ersetzt wurde.

Bei näherer Erkundigung gibt Patientin an, sie habe während ihrer 4wöchentlichen Schlaflosigkeit des Nachts stets daran gedacht, wie doch das ganze Leben wertlos sei. Wir verstehen, dass sie nicht bloss daran gedacht, sondern vor allem daran gearbeitet hat. Jetzt, wo ihr der männliche Feind in der Gestalt des Arztes gegenüber tritt, der der gleichen Wertung unterworfen wird wie der Mann überhaupt, der ihre Sicherungstendenz entlarvt und damit die Sicherung durch das Wachen untergräbt, sucht sie ihn, zum Schlafe gedrängt, durch ein Übermass des Schlafens klein zu machen.

Die nervöse Schlaflosigkeit ist ein symbolischer Versuch, der Wehrlosigkeit (auch des Schlafes) zu entrinnen und auf Sicherungen gegen ein Unterliegen zu sinnen. Der Traum ist eine andere Art dieses Versuches, ein Kompromiss gleichsam, da er die Wehrlosigkeit im Schlafe, damit das Gefühl der Minderwertigkeit überhaupt mit dem männlichen Proteste beantwortet. Der Traum, dies ist der Inhalt meiner Beobachtungen, drängt stets auf Sicherung und hat demnach die Funktion des Vorausdenkens. Dass er dies mit den Mitteln der Erfahrung bewerkstelligt, ist leicht zu verstehen, und so kommen in den Trauminhalt und in die Traumgedanken jene Erfahrungsniederschläge, die Freud zu seiner heuristisch wertvollen sonst aber unvollkommenen und einseitigen Traumtheorie veranlasst haben.

Nach langem Zögern, und auf die Neinbedeutung dieses Zögerns aufmerksam gemacht, bringt Patientin einige Tage später folgenden Traum:

„Ich bin vor dem „Steinhof“ (Wiens grosse Irrenanstalt). Doch husche ich rasch vorbei, da ich eine dunkle Gestalt drinnen sehe.“

Um alle künstlichen Beeinflussungen der Patienten, insbesondere bei der Traumdeutung zu vermeiden, sehe ich von allen Erklärungen meiner Traumtheorie ab und verweise bloss darauf, dass der Traum Gedankengänge wiedergäbe, die verraten, wie sich der Patient gegen den von ihm empfundenen Zustand der Wehrlosigkeit im Schlafe, der ihn an seine Wehrlosigkeit dem Leben gegenüber erinnere, durch Vorausdenken zu sichern suche. In Fällen, wie dem obigen, die vor allem dazu drängen, die Furcht vor der weiblichen Rolle zu besprechen, weise ich auch darauf hin, wie der Schlaf als Verweiblichung empfunden werden könne.

Die Redensart „in Morpheus Armen liegen“ — die häufigen Empfindungen des Gelähmtseins, des Gedrücktwerdens, die Analyse des Nachtmars, der Trud etc., ferner die von mir in allen Träumen nachgewiesenen weiblichen Linien, von denen der Traum sich zum männlichen Protest erhebt, wo also der Vorgang des bannenden Schlafes eine individuelle

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Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 175. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/183&oldid=- (Version vom 31.7.2018)