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Kompensation des Minderwertigkeitsgefühls verstehen, wie sie der Zwang der leitenden Fiktion erzeugt, als sekundäre neurotische Bildungen, welche besagen: „ich will ein voller Mann sein!“ Über den Formenwandel dieser Idee, bei Mädchen oft in der Bereitschaftsstellung: ich will über allen Frauen sein! — wurde bereits des öfteren gesprochen.

Einige dieser Zusammenhänge kann ich an folgendem Falle einer Patientin zur Darstellung bringen. Ein 19jähriges Mädchen kam in Behandlung wegen Depression, Suizidgedanken, Schlaflosigkeit und Arbeitsunfähigkeit. Sie war Zeichnerin geworden, um einen Beruf zu haben. Ausser einer Andeutung von hereditärer Tuberkulose und Myopie ergaben sich keine körperlichen Symptome. Die Angehörigen schilderten sie als ein früher trotziges Kind, das aus Hang zur Selbständigkeit aus dem Hause fortdrängte. Eine Mutter und der einzige ältere Bruder waren an Lungentuberkulose gestorben.

Die Anfänge der Behandlung erwiesen sich als schwierig, weil die Patientin teilnahmslos vor mir sass und keine meiner Fragen beantwortete. Nur gelegentlich äusserte sie sich durch eine verneinende Geberde oder antwortete mit: Nein.

Ich gehe vorsichtig daran, ihre Entwertungstendenz gegen die Welt, identisch mit ihrer Gleichgültigkeit, klar zu machen, zeige ihr, wie ihr beharrliches Schweigen, ihr Negativismus, ihr Nein in dieser auch gegen mich gerichteten Tendenz zu finden ist. Dann komme ich darauf zu sprechen, dass ihr Benehmen auf eine Unzufriedenheit mit ihrer Mädchenrolle hinweise, gegen die sie sich auf diese Art sichern wolle. Dabei bekomme ich stets ein Nein zu hören, was ich als erwartet und gegen den Mann gerichtet hinstelle und fortfahre. Der Beginn ihrer Depression fiel in die Zeit ihres Aufenthalts in einem Badeort. Ich behaupte nun mit Bestimmtheit, dass sich dort etwas zugetragen haben müsse, das dieses Nein ausgelöst habe, d. h. dass ihr ihre Mädchenrolle brüsk vor Augen geführt wurde. Darauf erzählt sie, sie sei vor mehr als einem Jahre in einem anderen Kurort gewesen, habe dort die Bekanntschaft eines jungen Mannes gemacht, der ihr gefallen habe, wobei es zu einleitenden Zärtlichkeiten und Küssen gekommen sei. Eines Abends wäre der junge Mann wie verrückt über sie hergefallen und habe sie unzüchtig berühren wollen. Da sei sie eilig davon und sofort abgereist. Ich mache sie darauf aufmerksam, dass sie — wie übrigens verständlich — in dem Moment ausgerissen sei, als der junge Mann durch sein Vorgehen sie deutlich in die weibliche Position drängen wollte, und knüpfte die weitere Bemerkung daran, sie müsse in diesem Sommer ein ähnliches Abenteuer erlebt haben. Patientin erzählt mir hierauf, dass ein Kurgast, den sie kurze Zeit vorher kennen gelernt hatte, sich in gleicher Weise wie der junge Mann benommen habe. Hierauf sei sie wie im vorigen Jahre sofort abgereist.

Die „Wiederkehr des Gleichen“ (Nietzsche) bringt uns zuerst auf den Gedanken, dass Patientin dabei wohl gehörig die Hand im Spiele hatte, dass sie beide Male arrangierend nachgeholfen habe, um im gleichen Moment abzubrechen. Dazu liefert uns die Patientin eine wertvolle Unterstützung mit der Bemerkung, dass die ausgetauschten Küsse sie keineswegs irritiert hätten. Ich zeige ihr, dass sie so weit mitgeht, bis ihre weibliche Rolle in Frage kommt. Ihre anfängliche Courage sei als männliche Eroberungsidee im Einklang mit ihrem männlichen Ziel.

Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 174. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/182&oldid=- (Version vom 31.7.2018)