und Organsystemen“ in sich fasst. Es lässt sich in jedem Falle — aus der Kinderbeobachtung und aus der Anamnese Erwachsener — leicht erweisen, dass der Besitz deutlich minderwertiger Organe auf die Psyche reflektiert und geeignet ist, die eigene Einschätzung geringer ausfallen zu lassen, die psychologische Unsicherheit des Kindes zu steigern; aber gerade von dieser geringeren Wertung aus entspinnt sich der Kampf um die Selbstbehauptung, der ungleich heftigere Formen annimmt als wir erwarten. Wenn das kompensierte minderwertige Organ quantitativ und qualitativ an Aktionsbreite gewinnt und aus sich selbst sowie aus dem ganzen Organismus Schutzmittel gewinnt, so holt das disponierte Kind in seinem Minderwertigkeitsgefühl aus seinem psychischen Können die oft auffälligen Mittel zu seiner Wertsteigerung, unter denen man an hervorragender Stelle die neurotischen und psychotischen zu vermerken hat.
Ideen über angeborene Minderwertigkeit, über Disposition und konstitutionelle Schwäche finden sich schon in den Anfängen der wissenschaftlichen Medizin. Wenn wir an dieser Stelle von vielen namhaften Leistungen absehen, so geschieht es — trotzdem sie oft grundlegende Gesichtspunkte enthalten — nur aus dem Grunde, weil sie den Zusammenhang mit organischen und mit psychischen Erkrankungen wohl behaupten, keineswegs aber erklären. Hierher gehören alle Anschauungen über Pathologie, die sich auf eine allgemeine Auffassung einer Degeneration stützen. Stillers Lehre vom asthenischen Habitus geht viel weiter und versucht bereits ätiologische Beziehungen festzuhalten. Antons Kompensationslehre beschränkt sich allzusehr auf Korrelationssysteme innerhalb des Zentralnervensystems; doch haben er und sein geistreicher Schüler Otto Gross beachtenswerte Versuche unternommen, psychische Zustandsbilder auf[WS 1] dieser Basis dem Verständnis näher zu bringen. — Bouchards Bradytrophie, die von Ponfick, Escherich Czerny, Moro und Strümpell beschriebene und als Krankheitsbereitschaft gedeutete exsudative Diathese, Combys infantiler Arthritismus, Kreibichs angioneurotische Diathese, Heubners Lymphatismus, Paltaufs Status thymicolymphaticus, Escherichs Spasmophilie und Hess-Eppingers Vagotonie sind erfolgreiche Versuche der letzten Dezennien, Zustandsbilder mit angeborenen Minderwertigkeiten im Zusammenhang zu schildern. Allen ist der Hinweis auf Heredität und infantilistische Charaktere gemeinsam. Aber obgleich die schwankenden Grenzen bei den beschriebenen Dispositionen von den Vertretern dieser Lehren selbst hervorgehoben werden, ist der Eindruck nicht von der Hand zu weisen, dass hervorstechende Typen erfasst sind, die sich einer grossen Gruppe, der der Minusvarianten, im Laufe der Zeit einordnen werden. Von ungeheurer Wichtigkeit für die Erkenntnis angeborener Minderwertigkeit und Krankheitsbereitschaft waren die Forschungen über die Drüsen mit innerer Sekretion, bei denen sich morphologische oder funktionelle Abweichungen ergaben, so betreffs der Schilddrüse, der Nebenschilddrüsen, der Keimdrüsen, des chromaffinen Systems, der Hypophyse. Von dem Standpunkt dieser Organminderwertigkeiten aus betrachtet, ergaben sich die Überblicke auf das Gesamtbild leichter, und die Beziehungen zu Kompensation und Korrelation im Haushalt des ganzen Körpers traten deutlicher zutage.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: anf
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 10. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/18&oldid=- (Version vom 7.12.2020)