dieser Grundlage auf, ebenso 1001 Nacht, und wenn wir näher zusehen, jede grosse und kleine künstlerische Leistung. Was ist ihr leitender Gedanke? Nichts Kleineres als einen Standpunkt zu gewinnen in der Unsicherheit des Lebens, im Kampfe mit der Liebe, im Beben vor der Frau. Δός πον στῶ!
Die Frau als Sphynx, als Dämon, als Vampyr, als Hexe, als männermordendes Scheusal, als Gnadenspenderin, — in diesen Bildern spiegelt sich der durch den männlichen Protest aufgepeitschte Sexualtrieb, die in der Karikatur der Frau, in zotenhaften, galligen Ergüssen, in Anekdoten und Schwänken, in herabsetzenden Vergleichen ihr Gegenstück haben. Ebenso drängt das nervöse, spiessbürgerliche Mannesbewusstsein und die Gier nach Überlegenheit zu gefesteten Überzeugungen, deren Entwertungstendenz dahin geht, der Frau die Gleichberechtigung, zuweilen auch die Daseinsberechtigung abzusprechen.
Eine andere Richtung von Gedankengängen Nervöser führt in der Sicherung vor der Frau konsequenterweise auch abseits von der Gegenwart und vom Leben. Schopenhauer kam auf diesem Wege, — die Vorbereitungen stammen aus seiner feindlichen Beziehung zur Mutter, — zur Verneinung des Lebens, der Gegenwart, aller Zeiten. Etwas weniger folgerichtig und methodisch flüchten viele der Patienten in der Furcht vor der Frau, aber ewig lüstern nach der Erfüllung ihrer Fiktion, in Phantasien und Träume, mit denen sie die Zukunft umspinnen. Jeder Nervöse zeigt diesen Zug, will die Zukunft erforschen und erhellen, um sich rechtzeitig zu sichern. Seine vorsichtig-ängstliche Erwartung gibt den Grundton künftiger Ereignisse: grau, düster, voll Gefahren. Denn so müssen sie ihm erscheinen, um als Antrieb wirksam zu werden. Nun kann er, die grösste Gefahr im Auge behaltend, die Linien seiner Charakterzüge und Bereitschaften haarscharf ausziehen, um sich zu sichern. Jetzt glaubt er den Weg zu seinem Leitziel gefunden zu haben, und er lässt statt des Ehrgeizes, statt der Sehnsucht nach Sieg und Triumph, nach Ansehen, Erhebung, Macht und Bewunderung oder neben ihnen seine neurotischen Symptome und Anfälle wirken. Er empfindet unter dem Zwang seiner Leitlinie als Gabe der Prophetie, was nüchterne Menschen in ihrem Vorausdenken und in ihrer Berechnung der Wirklichkeit besitzen. Aber mit den neurotischen Bestrebungen des Vorausdenkens berührt die Aufmerksamkeit Probleme und reiht sie nach der starren, gegensätzlichen Apperzeption des Nervösen ein, die eine Niederlage als Tod, als Minderwertigkeit, als Weiblichkeit und den Sieg als Unsterblichkeit, Höherwertigkeit, männlichen Triumph wertet, während die hundert anderen Möglichkeiten des Lebens in abstrahierender Weise ausgelöscht sind. Ebenso ist damit der Weg zur Antizipation künftiger Schrecken und Triumphe, sowie zur halluzinatorischen Verstärkung zwecks Sicherung beschritten. Die Psychosen zeigen diesen Weg in klarerer Weise, die Melancholie und die Manie als Antizipationen des reinen „Unten oder Oben“, die Dementia praecox, Paranoia und Zyklothymie in ihren Mischungen.
Anerkennung und Ausbau der Charakterlinien in prinzipieller Weise erfolgen nun unter Rücksichtnahme auf das Endziel. Die Verschärfungen von Geiz und Sparsamkeit sollen vor erniedrigender Not, Pedanterie vor Schwierigkeiten, ethische Charakterzüge vor Schande, alle gleichzeitig vor Liebesbeziehungen, Heirat oder Unterwerfung unter
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 171. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/179&oldid=- (Version vom 31.7.2018)