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weiblicher Personen, insbesondere nervöser, in allen Beziehungen des Lebens stammt aus dieser, aus der frühen Kindheit übernommenen Furcht, es könnte die Aufmerksamkeit auf ihr Geschlecht gelenkt werden. Ich habe mich oft davon überzeugt, dass die Leistungen von Mädchen und Frauen unter diesem mehr weniger unbewussten Eindruck erheblich leiden, ja dass oft der Fortschritt in der geistigen Entwickelung, — genau so wie bei männlichen Patienten, die sich unmännlich fühlen, — die Anknüpfung von gesellschaftlichen, beruflichen und Liebesbeziehungen prompt gehemmt werden, sobald der Patient in eine „weibliche“, oder untergeordnete Situation gerät oder diese Erwartung bei Anderen voraussetzt.

Dieses Ergebnis wird in keiner Beziehung berührt wenn als scheinbare Quelle der Aggressionshemmung offene oder „verdrängte“ Sexualerregungen zutage treten. Sie sind nämlich gleichfalls arrangiert, haben den Zweck, die Furcht vor dem Partner zu steigern und den im Lebensplan vorbestimmten Rückzug mit Sicherheit eintreten zu lassen, sind also auch Akte der Vorsicht. Auf diese Vorsicht aber hat es der Nervöse schon in seiner Kindheit angelegt, und in ihr spiegelt sich als Leitlinie der sichernden Schamhaftigkeit das Schamgefühl und die Prüderie der Kultur. Man kann von der übertriebenen Schamhaftigkeit aus der Vorgeschichte der Patientinnen erfahren, auch zuweilen von denen, die sonst ein bubenhaftes Wesen zeigten, und man kann bei nervösen Kindern beobachten, wie sie ängstlich jede Entblössung vermeiden und alle Anwesenden aus dem Zimmer schicken, auch wohl die Türen versperren, wenn sie sich entkleiden müssen. Dieses Verhalten wird man öfters auch bei Knaben wahrnehmen, die unter Mädchen aufwachsen. Der männliche Protest der letzteren äussert sich in diesen Fällen in absichtlicher und unabsichtlicher Herabsetzung des Knaben, bis dieser zur Verheimlichung seiner Männlichkeit gelangt. Für die Entwickelung der Neurose hat dieser Kunstgriff der Feigheit eine folgenschwere Bedeutung. Er ist gleichwertig etwaigen späteren Kastrationsgedanken und -wünschen des Neurotikers, Wünschen, ein Weib zu sein, sobald ihm die Furcht vor der Frau aktuell erscheint, oder sobald er vor einer Entscheidung fliehen will. Und ist doch ursprünglich aus dem Zwange einer übermännlichen Fiktion erwachsen, was man leicht aus den begleitenden, oft überdauernden Charakterzügen der übertriebenen Herrschsucht, des brennenden Ehrgeizes, der Sehnsucht, Alles haben zu wollen, überall der Erste zu sein, aus den Affektbereitschaften des Jähzorns und der Wut, aus der Entwertungstendenz und aus der übergrossen Vorsicht ersehen kann!

Ist demnach die nervöse Schamhaftigkeit dem heimlichen Versuche gleichzusetzen, den Mann spielen zu wollen, so tritt dieses „Rollenbewusstsein“ (Groos) bei dem scheinbar gegensätzlichen Charakterzug der nervösen Schamlosigkeit deutlicher hervor. In Wirklichkeit erweist sich diese letztere Linie als Verstärkung und Fortsetzung der ersteren, als aufdringliche Erinnerung an die Umgebung, dass man ein Mann sei. Die leitende Idee, welche die Bereitschaft oder die Gewohnheit der exhibitionistischen Geberde zeitigt, damit gleichzeitig oft verletzende, taktlose Aufdringlichkeit gegenüber der Umgebung, verrät im einzelnen den starken männlichen Einschlag. So, wenn bei nervösen Knaben oder Männern der sexuelle Exhibitionismus durchbricht oder sich gewohnheitsmässig in bestimmten Toillettefehlern äussert. In allen

Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 165. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/173&oldid=- (Version vom 31.7.2018)