werden dem Pädagogen Züge auffallen, wie Neid wegen der Grösse des älteren Bruders, wegen seiner Behaarung, wegen der Grösse seiner Genitalien. Dass es sich bei diesen Urteilen um fiktive Werte handelt, ergab sich mir auch gelegentlich der psychotherapeutischen Behandlung zweier Brüder, von denen jeder den anderen wegen der grösseren Genitalien in der Kindheit beneidet hatte. Ebenso wird eine wirkliche oder in der Natur der Sache gelegene Bevorzugung des älteren Bruders zum Angriffspunkt genommen. Dass er ins Theater, auf Reisen mitgenommen wird, dass er erfahrener im Sexualproblem ist, sich sexuell betätigt, dass er von Mädchen und vom weiblichen Dienstpersonal bevorzugt wird, kann das jüngere Kind bei vorliegendem Minderwertigkeitsgefühl mit unendlicher Bitterkeit erfüllen. Denn diese wehmütige, zuweilen hoffnungslose Stimmung ist bei unseren Patienten durch frühzeitige Empfindungen von Organminderwertigkeit bedeutsam vorbereitet und kann unglaublich hohe Grade erreichen. Zuweilen erscheint dem Kinde der Wettkampf aussichtslos. Es biegt seine männnliche Tendenz nach der pseudomasochistischen[1] Seite um und will nunmehr sein männliches Leitziel erreichen, indem es seine Krankheits- und Schwächeempfindungen stark unterstreicht, sich masslos beugt und unterwirft, in der Hoffnung, so den Schutz der Eltern und Stärkeren, die Herrschaft über sie und damit die ersehnte Sicherung im Leben zu gewinnen. Ich sah Fälle, wo lang andauernde Katarrhe in der Kindheit (Czerny’s exsudative Diathese) durch fortgesetzes Räuspern und Schnauben unterhalten wurden, zu Nieskrämpfen und Asthma führten (S. Strümpell’s Asthmatheorie), wobei gleichzeitig weibliche Fiktionen von Schwangerschaft und Kastration in Verbindung mit übertriebenen analen Empfindlichkeiten einen symbolisch zu verstehenden homosexuellen Einschlag bewirkten. In einem dieser Fälle war die fiktive weibliche Einstellung soweit gegangen, dass der Patient im Formenwandel seiner Leitlinie zur Identifizierung mit der jüngeren Schwester kam. Und da die Mutter eine auffällige Neigung zeigte, immer zu spät zu kommen, nahm er diese Wahrnehmung und seinen Wunsch an Stelle der später geborenen Schwester zu sein, zum Leitmotiv, um überall im Leben, auch bei mir in der Behandlung regelmässig zu spät zu kommen, eine Erscheinung, die nicht bei ihrer Aufdeckung, sondern erst nach eingetretener Heilung schwand. Bei diesen weiblichen Einstellungen wird der männliche Protest durch einen Umweg über die weiblichen Linien erstrebt, wird durch Tagesphantasien, Reizbarkeit, Rechthaberei, Unzufriedenheit regelmässig flankiert und ist in der Regel durch die Furcht vor der Prüfung, vor Entscheidungen, vor dem geschlechtlichen Partner auf Abwege gedrängt, so dass perverse Regungen, Zwangsonanie und Pollutionen häufig zu finden sind. Die initialen Organminderwertigkeitserscheinungen können verschwunden oder als Rest noch vorhanden sein. Kleinheit und Anomalien der äusseren Genitialien sind zuweilen nachzuweisen, äussern sich aber in der Regel nur psychisch durch die Furcht, dem geschlechtlichen Partner nicht zu imponieren. Diese Gefühlslage führt oft zu Eifersüchteleien, Quälsucht und sadistischen Neigungen, die den Beweis der Potenz, des Geliebtwerdens durchsetzen wollen.
- ↑ Nach unserer Auffassung ist jede Inversion und Perversion gleichnisweise und symbolisch. Zum Pseudomasochismns s. „Die psychische Behandlung der Trigeminusneuralgie“ l. c.
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 162. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/170&oldid=- (Version vom 31.7.2018)