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Augenblick, als es ihm entgegenkam, verlor es jeden Reiz für ihn. Ausserdem knüpfte er, als er der Verlobung näherkam, andere aussichtslose Beziehungen an, oder gestaltete sie aussichtslos, lief so seinen Körben nach, um sich durch die Empfindung seiner Einflusslosigkeit auch seiner zukünftigen Braut gegenüber als minderwertig einschätzen zu können. Daraus gewann er dann immer wieder neu den Antrieb, gegen die scheinbar gewünschte Heirat heimlich zu operieren. Einer seiner Träume lautete:

„Ich bin bei meinem alten Freunde und spreche mit ihm über einen gemeinsamen Bekannten. Er sagt, was hat der von seinem Gelde, er hat doch nichts gelernt.“

Auch der alte Freund, der unseren Patienten bei einem Mädchen ausgestochen hat, ist in der Unterrealschule durchgefallen und hat das Studium aufgegeben. Patient ist ihm überlegen, denn er hat die Technik absolviert. Er bekennt sich zu der sublimen Lehre: Wissen ist mehr als Geld, — insbesondere da dieses Bekenntnis seiner Fiktion, oben zu sein, zustatten kommt und ihn tröstet. Der gemeinsame Bekannte steht hier statt des von beiden umworbenen, reichen Mädchens. Der Wettlauf beginnt abermals. Unser Patient wird von seinem Rivalen als Sieger erklärt. —

Ein zweiter Traum aus dieser Nacht macht dies deutlicher. Patient träumt, „als ob er ein Mädchen aus dem niederen Volke zu Falle gebracht und entehrt hätte.“ Die Fiktion dieses Traumes besagt noch um eine Nuance deutlicher, dass er „oben“ sei. Das früher umworbene Mädchen ist hier im Sinne des Patienten herabgesetzt, verarmt und erkennt in ihm ihren Herrn. —

Ganz kurz will ich an dieser Stelle erwähnen, dass die Vielheit von Träumen in einer Nacht sich daraus erklärt, dass mehrfache Versuche des Vorausdenkens, der probeweisen Lösung eines Problems unternommen wurden. Es stellt sich dabei regelmässig heraus, dass — wie bei Nervösen leicht begreiflich — ein einziger Weg zur leitenden Persönlichkeitsidee der Vorsicht nicht genügt. Der Traum wird dann unter dem Einfluss der weitergehenden Sicherungstendenz noch abstrakter, bildlicher, und man hat dann nach der Deutung aller Träume einer Nacht mehrere psychische Attituden, aus deren Vergleich die Dynamik der Neurose um vieles deutlicher wird. Im obigen Fall unterwirft sich der Rivale im ersten Traum, und der Reichtum des Mädchens, ihre Macht, wird bezüglich der Geltung entwertet. Der zweite Traum hat dem Mädchen auch diese Macht genommen, sie in die weibliche Situation, „nach unten“ gebracht, und dies unter weitestgehender Abstraktion, so dass dem in Betracht kommenden Mädchen nichts Persönliches mehr, bloss ihre untergeordnete Rolle geblieben ist. — Patient äussert übrigens mehrfach Gedanken, dass für ihn nur ein ungebildetes Mädchen vom Lande tauge, der gegenüber er stets die herrschende Person sei.[1] Auch das Mädchen, die er zur Braut wählen will, schreckt ihn wegen ihrer Intelligenz. Dies ist der Zug vieler Neurotiker, der sie immer unter ihrem sozialen Niveau wählen lässt, und so kommen Gedanken und Tatsachen zustande, wie die, eine Prostituierte, ein kleines Mädchen zur Liebe oder Ehe zu wählen, nekrophile Neigungen etc. In allen ähnlichen Fällen wird man


  1. Ein weiterer Traum der gleichen Nacht könnte von der sexuellen Eroberung eines Mädchens handeln.
Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 156. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/164&oldid=- (Version vom 31.7.2018)