recht schlecht bei ihr haben. — Man versteht von diesem Punkte aus das oft unbegreifliche Streben mancher neurotischer Mädchen und Frauen, ihrem Partner die grössten Opfer und schwersten Prüfungen zuzumuten, soferne sie dadurch zu einer Erhöhung ihres Persönlichkeitsgefühls, zum Scheine der Manngleichheit zu gelangen hoffen.
Das Denken in schroffen Gegensätzen ist also allein schon ein Zeichen der Unsicherheit und hält sich an den einzig realen Gegensatz, den zwischen Mann und Frau. Damit ist auch schon ein Werturteil gegeben, das unmerklich in jede „Antithetik“ (Joel) hineinfliesst, weil diese immer nach dem Bilde der Zerlegung des Hermaphroditen in eine männliche und weibliche Hälfte vorgenommen wird. Plato hat dieser Idee vielleicht am reinsten Ausdruck gegeben. Und die menschliche Anschauung hat sich bis Kant nicht aus den Fängen ihrer selbstgeschaffenen Fiktion befreien können. — An die Gegensätzlichkeit der Geschlechter aber und an die damit verbundene Höherwertung des männlichen Prinzips klammert sich das neurotisch disponierte Kind, um seiner Unsicherheit zu entgehen, und um Richtungslinien für seine leitende Persönlichkeitsidee zu finden. So kommt es, dass diese leitende Fiktion ein männliches Aussehen erhält, und dass bei allem Erleben und Streben des Nervösen der männliche Protest als ordnendes und treibendes Prinzip durchdringt. Im obigen Symbol des räumlichen Gegensatzes von „Oben-Unten“ lässt sich der Gegensatz der Geschlechter vorzüglich ausdrücken. Und so wird verständlich[WS 1], dass in jeder unserer psychologischen Analysen dieser Ausdruck eines scharf gegensätzlichen Schemas irgendwie hervortreten muss. Ob dabei aus den Realien der frühen Kindheit und ihren Eindrücken, aus Beobachtungen des Sexualverkehrs bei Menschen oder Tieren Verstärkungen, geholt werden, oder ob nicht das Höhenbewusstsein des Mannes die normale Situation des Sexualverkehrs fixiert hat, ist eine offene Frage.
Das „Obenseinwollen“ der nervösen Frau ist durch ihr männliches Leitbild erzwungen und stellt den Versuch einer Identifizierung mit dem Manne vor. Die Aufdringlichkeit und „Denkstarre“, mit der dies, wenn auch auf neurotischen Umwegen, geschieht, bezeugt die ursprüngliche Unsicherheit und Furcht, man werde einmal „unten“, herabgesetzt, weiblich sein. So kommt die transzendentale Persönlichkeitsidee zu ihrer beherrschenden Macht, weil sie die Kompensation, die Beruhigung des Minderwertigkeitsgefühls „im Jenseits“, in Aussicht stellt. „Ich will oben, ich will ein Mann sein“, spricht dann jede Geste, „weil ich fürchte, als Frau unterdrückt und missbraucht zu werden“. Damit wird der Ehrgeiz, der Neid etc. verstärkt, und ein ungemein geschärftes Misstrauen wendet sich frühzeitig gegen jede Möglichkeit einer Verkürzung. Bei wirklichen Herabsetzungen aber flammt der männliche Protest auf und führt bei geringfügigen, oft nichtigen Anlässen schon zu den bekannten, unangenehmen Reibungen der Nervösen mit ihrer Umgebung, zu denen prinzipielle Rechthaberei und Gerechtigkeitsliebe, der eigensinnige Scharfsinn und der Scharfblick des Nervösen die Bereitschaften und Griffe bilden, das vorgeschobene Angriffsorgan, um dem Machtgefühl zu seiner Bestätigung zu verhelfen. Dabei wird man niemals, insbesondere in Zeiten grösserer Unsicherheit, das „Suchen nach Unten“ vermissen, der verschärfte Blick für erlittene Demütigungen und Kränkungen, Verkürzungen und Zurücksetzungen, ferner Arrangements von Depression, Angst, Reue,
- ↑ Vorlage: verständiich
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 152. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/160&oldid=- (Version vom 31.7.2018)