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Ein klein gewachsenes 25jähriges Mädchen stellt sich mit der Klage über häufigen Kopfschmerz, Affektausbrüche, Arbeits- und Lebensunlust vor. Spuren der Rachitis sind allenthalben wahrzunehmen. Die Kindheitsgeschichte deckt ein ungeheures Minderwertigkeitsgefühl auf, das insbesondere wegen der Bevorzugung eines jüngeren Bruders durch die Mutter und durch dessen intellektuelle Überlegenheit in fortwährender Spannung erhalten wurde. Der sehnlichste Wunsch dieser Patientin war immer gewesen: gross, sehr klug und ein Mann zu sein. Die vorbereitenden Attituden zur Erreichung dieses männlichen Persönlichkeitsideals nahm sie, soweit sie konnte, vom Vater. Wo ihr als kleinem, dummen Mädchen diese Möglichkeit fehlte, hat sie durch Affektbereitschaften des Jähzorns und der Wut, durch Simulation von Dummheit, Ungeschicklichkeit und Krankheit, nicht zuletzt durch das Arrangement von Faulheit ihren Angehörigen gegenüber, insbesondere im Trotze gegen die Mutter ihr imaginatives Persönlichkeitsgefühl gesichert. Ich übergehe die von ihr konstruierten Linien der Männlichkeit, der Bosheit und des Trotzes, will auch nicht ihren flammenden Ehrgeiz, noch ihren Hang zur Lüge und Prahlerei auseinandersetzen, sondern ich werde mich begnügen, zu zeigen, wie in der Sucht „Oben zu sein“ alle diese Züge vereint sind und der Entwertungstendenz dienen. Zu diesem Zwecke will ich an einen ihrer Träume anknüpfen, der einen bescheidenen Hinweis auf die Psychologie der „Mondsucht“ enthält. Der Traum lautet:

„Ich bin mondsüchtig geworden und bin allen Leuten auf den Kopf gestiegen.“

Patientin hat vor einigen Tagen von Lunatikern sprechen gehört. In ihren Erklärungsversuchen zu diesem Traumbild taucht eine Reihe ehrgeiziger Gedanken auf, die unter anderem auch in ein sexuelles Bild der Vorherrschaft über ihren zukünftigen Mann gekleidet sind. Von früher her erinnert sie sich an Traumbilder, die sie auf einem Manne,[1] auf einem Pferde reitend darstellen. Ich habe nie einen veritablen Mondsüchtigen behandelt. Aber in Ansätzen findet man dieses neurotische Symptom gelegentlich angedeutet. Es erweist sich, ebenso wie der Flugtraum, der Traum vom Treppensteigen etc. als der dynamische Ausdruck des „Obenseinwollens“ im Sinne der männlichen Aggression. Bei einem Patienten, der einen stark masochistischen Einschlag zeigte, fand ich angestrengte Versuche, während seines Schlafes mit den Beinen voraus an der Wand, zur Decke des Zimmers hinauf zu gelangen. Die Deutung ergab, dass der Patient sich aus einer als weiblich gewerteten phantasierten oder realen Situation durch Umkehrung zum männlichen Protest wandte, gleichzeitig diesem durch sein Streben nach „Oben“ in einem symbolischen Modus dicendi Ausdruck gab.

Der zweite Gedanke des Traumes: „ich bin allen Leuten auf den Kopf gestiegen“, — ergibt den gleichen Sinn. Patientin verwendet hier eine geläufige Redensart, um auszudrücken, dass sie allen überlegen ist. Ihr Trachten nach Oben ist nur dialektisch, in einer Antithese zu verstehen, wie sich ja überhaupt das Denken des unsicheren Neurotikers gewöhnlich in scharf gegensätzlicher Richtung, in einem „Entweder-oder“


  1. Eine Frau auf dem Manne reitend, findet sich direkt oder in Verkleidungen häufig als Sujet der Malerei. Ich erinnere an Burgkmair, Hans Baldung Grien, Dürer und die mehrfachen Abbildungen, welche die Geliebte Alexanders auf Aristoteles reitend zeigen.
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Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 149. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/157&oldid=- (Version vom 31.7.2018)