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VI. Kapitel.
Oben—Unten. — Berufswahl. — Mondsucht. — Gegensätzlichkeit des Denkens. — Erhöhung der Persönlichkeit durch Entwertung Anderer. — Eifersucht. — Neurotische Hilfeleistung. — Autorität.— Denken in Gegensätzen und männlicher Protest. — Zögernde Attitude und Ehe. — Die Attitude nach aufwärts als Symbol des Lebens. — Masturbationszwang. — Nervöser Wissensdrang.

Die Abstraktion der Begriffe „Oben-Unten“ spielt in der Kulturentwickelung der Menschen offenbar eine ungeheuere Rolle, die wahrscheinlich schon an den Beginn des aufrechten Ganges der Menschheit anknüpft. Da jedes Kind dieses Geschehnis in der Entwickelungsreihe wiederholt, wenn es sich vom Boden aufrichtet, die Erziehung auch aus allgemeinen hygienischen Grundsätzen stark nachhilft, ihm das „Unten sein“, das Haften und Kriechen am Boden zu verleiden, ja zu verekeln, so mag diese höhere Entwickelung im Kindesalter nicht wenig dazu beitragen, das „Oben“ höher zu werten. Ein sicherer Hinweis ist in dem Benehmen kleiner Kinder zu finden, die sich trotzig zu Boden werfen, sich dabei auch wohl schmutzig machen wollen, um sich den Eltern gegenüber zur Geltung zu bringen, dabei aber verraten, dass ihnen der Begriff des „Untenseins“ als Fiktion des Verbotenen, Schmutzigen, Sündhaften aufkeimt. In dieser psychischen Geste kleiner Kinder ist wohl auch das Vorbild für spätere, stark überbaute neurotische Züge, insbesondere des pseudomasochistischen Gebarens zu erblicken.

Weitere Eindrücke, wie man sie auch aus kultur- und religionspsychologischen Erkenntnissen reichlich gewinnen kann, dürften dem Eindruck der Himmelskörper entnommen sein. Wie das Kind, so kamen auch die Urvölker dazu, die Sonne, den Tag, die Freude, die Erhebung, das „Obensein“ einander gleichgesetzt zu fühlen, während sie das „Unten“ mit der Sünde, dem Tode, dem Schmutz, der Krankheit, der Nacht recht häufig in Verbindung brachten. Die Gegensätzlichkeit des „Oben-Unten“ in den modernen Religionssystemen ist nicht minder deutlich bei den Alten zu finden. Einer Arbeit von K. Th. Preuss über „die Feuergötter als Ausgangspunkt zum Verständnis der mexikanischen Religion“ (Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien 1903) entnehmen wir die besondere Ausprägung dieses Gegensatzes und der Verbindung von „Unten-Oben“. Der Feuergott ist zugleich der Gott der Toten, die mit ihm am Ort des Herabsteigens wohnen. Als Bilder des „Oben-Unten“, d. h. des Hinabstürzens ins Totenreich galten umgestürzte Gefässe, hinabstürzende

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Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 147. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/155&oldid=- (Version vom 31.7.2018)