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der Macht ausgestattet und zur Gottheit erhoben, — damit der Mensch seine Richtungslinien einwandfrei ausbauen kann, damit er sich leichter zurechtfindet in der Unsicherheit des Geschehens, damit er die Wahl habe unter den Griffen und Kampfesweisen, zu denen ihn sein Wille zur Macht leitet.

Aber selbst, um besser die Griffe ansetzen zu können, bringt der Nervöse diese Umbildung von Charakterzügen zustande. So wenn er in der Furcht vor dem sexuellen Partner in neurotischer Perspektive ihm egoistische, grausame, hinterhältige Charakterzüge ganz allgemein und prinzipiell zuschreibt. Er wird dann gerne aus seinen Erinnerungen und Regungen jene hervorsuchen und übertreiben, die seinen Charakter als herzlich, milde und offen bestätigen. Er wird auch des Beweises wegen öfters so handeln, als ob seine Tugenden die Realität des Angeborenen und Unvergänglichen hätten.

Eine wichtige Frage muss noch berührt werden. Fast alle unsere nervösen Patienten kommen im Stadium der Tugend zu uns, das heisst nach der Niederlage. Wir müssen demnach darauf gefasst sein, ihren männlichen Protest weniger in geradlinigen Charakterzügen und Affektbereitschaften als in den neurotischen Umbiegungen, verstärkten Sicherungen und in der Analyse ihrer Träume und neurotischen Symptome mühsam zu entdecken. Es wird sich erweisen, dass das kindliche fiktive Leitbild nur stärker wirksam geworden ist, und für die zuletzt genannten Fälle, dass die neurotischen Symptome mit stärkerer Wucht zur Entwertung Anderer führen als die früheren Leitlinien der Grausamkeit und Quälsucht. Denn alle diese Linien sind gespannt zwischen der ursprünglichen Unsicherheit des konstitutionell oder subjektiv Minderwertigen und seiner unerreichbaren fiktiven Persönlichkeitsidee. Wie weit auch der Sadismus, Perversionen, Sexuallibido, oder summarisch der männliche Protest und die konstruktiven Linien des Charakters in die Tage der Kindheit zurückreichen, sie sind immer aufgebaut nach einem Lebensplan und zeigen sich von ihm abhängig. Die Befreiung des Sadismus aus den neurotischen Bereitschaften, — nach Freud: aus dem Unbewussten und aus der Verdrängung, — ist etwa einer Zurückführung der Neurose in ein früheres Stadium, in die Zeit vor der Niederlage gleichzusetzen. Freuds wissenschaftliche Leistung, so bedeutend und folgenschwer sie auch war für das Verständnis der Neurose, gab kein richtiges Bild von der neurotischen Psyche. Die neurotischen Bereitschaften der Affektsteigerungen, die Züge der übertriebenen Aggression, der Überempfindlichkeit und der geradlinigen kompensierenden Charaktereigenschaften bedürfen einer Erlösung aus ihrer Überspannung. Ebenso die zuweilen frühzeitig konstruierten neurotischen Perversionsneigungen, die der allgemeinen Furcht vor Entscheidungen durch eine Kompromissbildung zu Hilfe kommen sollen. Deshalb ist die Aufhebung des Minderwertigkeitsgefühls und der daraus resultierenden Entwertungstendenz, — dieser beiden wichtigen Pole jeder neurotischen Einstellung, — durch die Einsicht und Überlegung des Patienten anzustreben. Denn sie sind, wie ihre sexuellen Analogien, (Sadismus, Masochismus, Fetischismus, Homosexualität, Inzestphantasie, scheinbare Steigerung oder Abschwächung des Sexualtriebs,) bereits zum Fundament der Neurose geworden.

Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 146. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/154&oldid=- (Version vom 31.7.2018)