Der Befund grausamer Charakterzüge in allerfrühester Kindheit lässt sich in der Analyse von Neurosen und Psychosen ungemein häufig erheben. Man tut freilich unrecht, an die Lebensäusserungen der ersten zwei Jahre unseren moralischen Massstab anzulegen und Kraftleistungen solcher Kinder, die wirklich noch jenseits von Gut und Böse stehen, bereits als sadistisch oder roh einzureihen, wie es oft zu geschehen pflegt, wenn Eltern oder Erzieher aus der Vorgeschichte von Psychopathen erzählen. Denn psychisch, oder in unserem Falle neurotisch werden diese Äusserungen erst, wenn sie einem bestimmten Zwecke dienen und dazu unter Abstraktion und mit vorausblickender Tendenz konstruiert werden.[1] Dass sie sich immer aus Möglichkeiten und Fähigkeiten des Erlebens aufbauen, berechtigt natürlich nicht zur Annahme eines konstitutionellen Faktors. In der Tat findet man den Charakterzug der Grausamkeit immer nur als kompensatorischen Überbau bei Kindern, die auch sonst durch ihr Minderwertigkeitsgefühl zu frühzeitigem und überstürztem Ausbau ihres Persönlichkeitsideals gedrängt werden. Begleitende Züge von Trotz, Jähzorn, sexueller Frühreife, Ehrgeiz, Neid, Habsucht, Bosheit und Schadenfreude, wie sie regelmässig von der leitenden Fiktion erzwungen werden und die Kampf- und Affektbereitschaften formieren und mobilisieren helfen, geben das bunt wechselnde Bild des schwer erziehbaren Kindes.
Die Herrschsucht solcher Kinder tritt in der Familie und im Spiel, zumeist auch im Gang, in der Haltung und im Blick deutlich hervor. Im Spiel und in den frühesten Gedanken über die Wahl eines Berufes dringt ihr grausamer Zug oft verschleiert durch und lässt sie Henker, Fleischhauer, Polizisten, Totengräber, Wilde, aber auch Kutscher, „weil sie die Pferde“, Lehrer, „weil sie die Kinder schlagen können“, Ärzte, „weil diese schneiden können“, Soldaten, „weil sie schiessen können“, Richter etc., als Idealfiguren aufstellen.[2] Auch das Forscherinteresse mengt sich häufig drein, und das Quälen von kleinen und grösseren Tieren und Kindern, Erwägungen und Phantasien über mögliche Unglücksfälle, die oft die nächsten Angehörigen betreffen könnten, das Interesse für Leichenzüge und Friedhöfe, für sadistische Erzählungen, die das Gruseln erzeugen, nehmen ihren Anfang.
Der nächste Zweck dieser aufgepeitschten Grausamkeit ist, die stets gegenwärtigen, gleichzeitigen Möglichkeiten der Schwäche, des
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 143. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/151&oldid=- (Version vom 31.7.2018)