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über den Vater, wenn diese Sicherheit gelegentlich in die Brüche ging. Die männliche Einfühlung in der Ehe war also auf Beherrschung des Mannes und Steigerung seiner Zärtlichkeit gerichtet. Da es dabei immer ein „Noch“ gab, mussten weitere Ersatzstücke herbeigeholt werden. Und die wichtigste dieser Ersatzbildungen war, weiterhin keine Kinder zu gebären. Es war, wie in vielen dieser Fälle (einen habe ich in der „Männlichen Einstellung weiblicher Neurotiker“, Zeitschr. f. Psychoanalyse, Heft 4, 1910 beschrieben), im Hause ein Gemeinplatz geworden, dass eine Frau, die an solchen Kopfschmerzen litt, kein zweites Kind haben durfte. Schlaflosigkeit, Unmöglichkeit des Einschlafens nach zufälliger Störung, Hinweis auf Schwierigkeiten der Wohnung, Schutzmassregeln und Verzärtelung des einzigen Kindes vervollständigten die Sicherung.

Dass diese Erscheinungen bloss ein neues Gesicht für den alten Wunsch der Manngleichheit waren, bewies schon ihr erster Traum:

„Ich befand mich mit Mama am Bahnhof. Wir wollten den kranken Papa besuchen. Ich fürchtete den Zug zu versäumen. Da tauchte plötzlich der Papa auf. Dann war ich in einem Uhrengeschäft und wollte mir einen Ersatz für meine verloren gegangene Uhr kaufen.“

Der Mutter, die von ihr ungemein verehrt wird, fühlt sie sich überlegen. Ebenso dem Vater, der ihr alles zu willen tut. Krank = schwach. Der Vater ist vor einiger Zeit gestorben. Kurz nach seinem Tode bekam sie einen ihrer schrecklichen Migräneanfälle. Im Traume lebt er wieder auf, und seine Person bedeutet für sie eine Erhöhung ihres Persönlichkeitsgefühls. Sie ist seit jeher ungeduldig, fürchtet immer zu spät zu kommen. Ihr Bruder ist früher wie sie gekommen, ist ein Mann geworden. Sie muss sich beeilen, — „mit einem Sprunge machts der Mann, mit hundert Sprüngen machts die Frau“ — wenn sie bis zur Höhe des männlichen Persönlichkeitsgefühls gelangen will. Am Vortage des Traumes eilte sie ins Konzert, und war durch die Mutter aufgehalten worden. Die Frauen verspäten sich häufig, sie will es nicht.

Die Wirklichkeit erinnert sie daran, dass sie doch wie die Mama eine Frau ist. Dieser Gedanke liegt in dem Bild des Zusammenseins mit der Mutter am Bahnhof. Ihr kämpferischer Affekt, der identisch ist mit ihrem männlichen Protest, richtet sich gegen den Mann, gegen den Vater. In der weiteren Folge der Analyse tritt oft der entwertende Gedanke zutage, die Frau sei stärker, lebenskräftiger und gesünder als der Mann. Dazu kommt als weiterer Anreiz zum Kampfe, dass „der Vater (der Mann) plötzlich auftaucht“. Dieses Bild ist vom Schwimmen genommen und bedeutet in der neurotischen Perspektive immer das „Oben sein“ im Gegensatz zum „Unten sein“. Während also Patientin fürchtet, den Zug zu versäumen, zurückzubleiben, einem andern gegenüber — aus dem Zusammenhang zu ergänzen: dem Manne gegenüber, — zu unterliegen, merkt sie mit immer zunehmender Erfahrung, dass der Mann vorne, oben ist. Die Verwendung eines räumlichen Bildes, einer abstrakten Raumvorstellung, um das Gefühl der Zurückgesetztheit zu illustrieren, ist in der Neurose (s. Syphilidophobie l. c.) wegen seiner Eignung, durch fiktive, abstrakte Gegensätzlichkeit — Nichts oder Alles! — die Kampfstellung vorzubereiten, im weitesten Ausmasse vorzufinden. Ebenso ist es ein vielgeübter

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Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 141. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/149&oldid=- (Version vom 31.7.2018)