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das ein Held sein will, in dem plumpen, schilddrüsenschwachen Knaben, der ein Schnellläufer und später immer der erste zu werden versucht.

Aber die Richtung der Sicherungstendenz muss sich, um zielgerecht zu werden, an Beispiele anlehnen. Und da bietet sich der Mann dem Persönlichkeitsgefühl des Kindes viel auffälliger an als die Frau. Ja es ist, als ob ein weibliches Beispiel nur nach anfänglichem Kampf nachgeahmt werden könnte, und zwar nur dann, wenn es nach der Richtung des geringsten Kraftausmasses die Herrschaft zu sichern imstande ist.

So war es, wie recht häufig in Fällen von Migräne, auch bei unserer Patientin. Ihre Mutter litt an Migräne. Zahlreiche Autoren hoben den Umstand hervor, dass man so oft eine „Vererbung“ der Migräne von der Mutter konstatieren könne. Wir müssen den Gedanken an eine Vererbung der Migräne in gleicher Weise fallen lassen, wie den einer organischen Bedingtheit. Ich habe das Wesen dieser Frage schon einmal (Neurotische Disposition, Jahrbuch Bleuler-Freud 1908) an dem Falle eines 7jährigen Mädchens klargelegt und habe mich vorher oft überzeugt, dass dem Migräneanfall ein Gefühl der Unsicherheit und Verkürztheit vorausgeht, und dass der Anfall dazu dient, meist nach der Art der Mutter, das ganze Haus in den eigenen Dienst zu stellen. Es leiden der Mann, der Vater, die Geschwister nicht weniger darunter als der Patient. Und so ist die Migräne in die Reihe der neurotischen Erkrankungen zu setzen, die dazu dienen, die Vorherrschaft im Hause, in der Familie zu sichern. Dass diese Vorherrschaft männlich gemeint ist, auf den Wunsch ein Mann zu sein, zu reduzieren ist, ergibt sich aus der weiteren Analyse. Aber eine kurze Erwägung betreffs der zur Zeit der Periode auftretenden Migräne lehrt uns auch in diesem Falle die Unzufriedenheit mit der weiblichen Rolle verstehen. Zusammenhänge mit Epilepsie, Ischias, Trigeminusneuralgie habe ich öfters kennen gelernt. In meinen Fällen stellte sich regelmässig heraus, dass die letztgenannten Erkrankungen in diesen Fällen gleichfalls psychogen waren und entstanden, als stärkere Sicherungen nötig wurden.

Unserer Patientin blieb als Einflusssphäre bloss der Vater übrig, den sie wohl ganz gewonnen hatte, dessen Eroberung aber ihr eigenes Ziel nie ganz decken konnte, so dass sich, wie in der Neurose gewöhnlich, ein „Noch, Noch mehr!“ nachweisen liess, das den Besitz des Vaters beweisender festlegen wollte. Die Mutter litt an Migräne, und die Zeit ihrer Anfälle war wie gewöhnlich bei Migränekranken auch die Zeit ihrer Alleinherrschaft. Also tat unsere Patientin, die bereits den Wert der Krankheit begriffen hatte, so, als ob sie auch an Migräne litte.[1] Und es gelang ihr, was auch dem Urmenschen, dem Wilden gelang, als er sich einen Götzen schuf, der ihn mit Schaudern erfüllte: die selbstgeschaffene Migräne. Diese Als-Ob-Schöpfung, diese Fiktion verselbständigte sich, so dass sie Schmerz und Trauer erwecken konnte, sobald Patientin ihrer bedurfte. Die schauspielerische Leistung gelang so sehr, dass Patientin um ihres tendenziösen Wertes wegen die Fiktion nicht mehr durchschaute. Ja sie gewann durch sie ein Gefühl der Überlegenheit und Sicherheit gegenüber ihrem Manne, wie vorher


  1. In der Arbeit „Über neurotische Disposition“ habe ich hervorgehoben, was auch an dieser Stelle gesagt werden muss, dass eine ursprüngliche Minderwertigkeit die Auswahl des Symptoms protegiert. In der Neurose kommt dieser Mechanismus als Krankheitsbereitschaft in den Besitz der Psyche.
Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 140. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/148&oldid=- (Version vom 31.7.2018)